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Umweltpolitik. Viele Mythen, zu wenig Fakten
Wenn Pflanzenschutzmittel verboten oder eingeschränkt werden, geht bei den Begründungen dafür oft einiges durcheinander. Wir haben mit Andreas von Tiedemann über das schwierige Verhältnis von Politik und Wissenschaft gesprochen.
Herr Prof. von Tiedemann, am 1. September tritt das »Insektenschutzgesetz« in Kraft. Ist es gut gemacht – also in dem Sinne, dass es gefährdete Insekten schützt?
Diese gesetzliche Maßnahme ist wissenschaftlich nicht hinreichend untermauert. Die Studienlage zeigt klar, dass ein direkter Zusammenhang zwischen Pflanzenschutzmitteleinsatz und Veränderung der Insektenpopulationen nicht nachgewiesen ist. Wir sehen auf den Flächen, auf denen wir intensiv seit Jahrzehnten Insektizide einsetzen, Insektenvorkommen, die nicht schrumpfen. Im Raps z. B. haben die Populationen trotz jahrelangen Einsatzes von Insektiziden nicht ab-, sondern zugenommen, und zwar weltweit.
Wir haben gerade eine Studie erstellt, die ausweist, dass auf der ganzen Welt mehr als dreißig Schadinsektenarten im Raps vorkommen, und davon haben über die Hälfte in den letzten 20 Jahren zugenommen – trotz des dort praktizierten Pflanzenschutzmitteleinsatzes.
Und die Nützlinge?
Das betrifft die Nützlinge gleichermaßen. Auch deren Populationen haben nicht abgenommen. Das zeigen Zahlen aus Mecklenburg-Vorpommern über Laufkäferpopulationen seit den 80er Jahren.
Vom Julius-Kühn-Institut gibt es aktuelle Daten, die hohe Parasitierungsraten von Schaderregern in Rapsfeldern durch Nützlinge ausweisen, die nicht rückläufig sind. Die These, dass die natürliche Bio-Kontrolle ausgehebelt werden würde, trifft somit nicht zu. Das Julius-Kühn-Institut hat Parasitierungsraten von mehr als 80 % festgestellt. Und trotzdem schießen die Populationen der Schaderreger noch über die Schadensschwelle hinaus.
Also, zu Ihrer Frage am Anfang: Um zu beurteilen, ob die Verbote, die mit dem Insektenschutzgesetz kommen, den Insekten nützen, muss erst einmal ein Zusammenhang dargestellt werden – aber er ist nicht dargestellt. Es fragt sich, warum er dann Grundlage für ein Gesetz ist.

Zur Klärung will die Bundesregierung ein aufwendiges Insektenmonitoring aufsetzen. Aber Daten zum Insektenbestand gibt es ja offenbar genug ...
Es gibt vor allem zwei neue Studien, die ich für ganz wichtig halte, weil sie den Stand des Wissens umfassend wiedergeben. Eine davon ist im April letzten Jahres in »Science« erschienen. Hauptautor ist Roel van Klink. Es ist eine große Metaanalyse, die sich mit den Veränderungen der Population aquatischer und terrestrischer Insekten beschäftigt und alles zusammenfasst, was derzeit an Studien verfügbar ist, die sich über größere Zeiträume erstrecken.
Zusammengefasst weisen die Daten keinen globalen Rückgang der Insektenpopulationen aus. Interessant an den Zahlen aus van Klink ist, dass die negativen Trends, die tatsächlich in einigen Regionen vorkommen, sich seit den 90er Jahren abschwächen. Das widerspricht der These, dass wir ein zunehmendes Problem hätten.
Die zweite Studie stammt von Michael Crossley und Kollegen und ist in »Nature Ecology & Evolution« erschienen. Sie fasst Datenreihen aus Nordamerika zusammen. Für diese Arbeit wurden natürliche und vom Menschen beeinflusste Standorte berücksichtigt. Die Autoren kommen zu der Aussage, dass es in den letzten 40 Jahren eine hohe Stabilität der Insektenpopulationen gegeben hat und kein Trend zu erkennen ist, der auf dramatische Abnahmen hindeutet. Auch diese Studie weist darauf hin, dass in den letzten zwei Jahrzehnten die Trends eher positiver geworden sind.
Von Wissenschaftlern gab es auch die Aussage, dass diese Studie »aus politischen Gründen hochproblematisch« sei.
Ja, und das ist das Grundproblem. Im Bereich der Umweltwissenschaften gibt es leider eine Vermischung gesellschaftlicher Meinungstrends mit den Aussagen der Wissenschaft – zumindest lassen sich diese beiden Positionen zum Teil kaum noch unterscheiden.
Dadurch geht die für wissenschaftliches Arbeiten so wesentliche Objektivität verloren. Es entstehen Publikationen, die mit äußerst fragwürdiger Methodik
erarbeitet wurden und eine eindeutige Absicht erkennen lassen, die erfüllt werden soll.
Und dabei ist eine objektive Umweltwissenschaft heute besonders wichtig. Wenn Wissenschaft mit ihren Aussagen nur noch die gesellschaftlichen Erwartungen bedient, verliert sie ihre eigene Stimme. Und wenn sie aufhört, Dinge zu hinterfragen, verlieren wir den Fortschritt.
Eine Wissenschafts-Community, die sich in den wesentlichen Aussagen einig ist, auch weil diese der persönlichen Haltung entspricht, und sie nicht mehr kritisch hinterfragt, ist ein ernsthaftes Problem. Dieses Problem sehe ich in Teilen der Umweltwissenschaften, mit denen ich im Bereich des Pflanzenschutzes Kontakt habe.
Und es kommt noch etwas dazu: Es entsteht eine völlig abgetrennte Community, die sich zwar akzentuiert zu Fragen der Landwirtschaft äußert, aber den für die Beurteilung nötigen agrarwissenschaftlichen Hintergrund gar nicht hat.

Das war ja auch Ihre Hauptkritik an der Stellungnahme der Leopoldina »Biodiversität und Management von Agrarlandschaften«.
Ja, von den 18 Autoren dieser Stellungnahme ist der überwiegende Teil in Bezug auf das gestellte Thema fachlich überhaupt nicht ausgewiesen.
Die Stellungnahme hat ungefähr 60 Seiten, davon ist knapp die Hälfte eine Situationsbeschreibung mit einer sehr fraglichen, weil selektiven Form des Zitierens. Und die zweite Hälfte dieser Stellungnahme sind Ratschläge an die Politik, was im Pflanzenschutz zu passieren hat – und das von Autoren, die vermutlich noch nie auf einem Betrieb gesehen haben, wie Pflanzenschutz abläuft.
Neben der Verletzung wissenschaftlicher Standards ist das das zweite Problem dieser Stellungnahme: Die Anmaßung, auf Gebieten Ratschläge zu erteilen, in denen man eigentlich fachfremd ist. Das passiert augenblicklich in großem Maße und führt in Bezug auf die Regulierung im Pflanzenschutz dazu, dass die Politik zwar auf die Wissenschaft hört, dabei aber übersieht, dass der Rat von Experten kommt, die im Pflanzenschutz gar nicht ausgewiesen sind.
Ein Umweltwissenschaftler interessiert sich nicht für den agronomischen Nutzen des Pflanzenschutzes – er kennt ihn meistens gar nicht –, sondern nur für die möglichen Nebeneffekte, und so einseitig fällt dann auch die Politikberatung aus.
Dieser völlig andere fachliche Blickwinkel führt dann zu den vermeintlich unterschiedlichen Aussagen der Wissenschaft.
Was kann man dagegen tun?
Ich glaube, es ist heute wichtiger denn je, dass wir uns wieder klarmachen, wie wichtig die Einhaltung wissenschaftlicher Standards ist.
Ich sehe viel Mystizismus und die Relativierung von Tatsachen. Es wird infrage gestellt, ob die Wissenschaft überhaupt zu Erkenntnissen führen kann oder ob das nicht alles nur Standpunkte sind. Das ist die Auflösung des Prinzips der Aufklärung, der wir so viel zu verdanken haben, darüber müssen wir dringend mehr sprechen.
Und die Verletzung wissenschaftlicher Standards kann tatsächlich zu kontraproduktiven Ergebnissen führen?
Ja, es ist absehbar, dass die Maßnahmen, die aus dem Insektenschutzgesetz resultieren, eher zu einer Verschlechterung für Insekten führen. Die Bodeninsekten werden auf jeden Fall darunter leiden, denn die Alternative zu Glyphosat ist die intensivere Bodenbearbeitung. Vermehrter Insektizideinsatz in der Fläche aufgrund von Beizverboten ist ein weiteres Beispiel.
Deswegen wäre meine Forderung als Wissenschaftler jenseits aller ideologischen Grabenkriege: Warum bewerten wir nicht die ökologischen Wirkungen von Maßnahmen, unabhängig davon, ob sie nun chemisch, mechanisch, vorbeugend oder direkt sind. Dann wird man in vielen Fällen zu gemischten Lösungen kommen.
Glyphosat ist ein gutes Stichwort: Der Antrag auf Verlängerung der Genehmigung ist gestellt. Dass die Debatte sich versachlicht, erwarten Sie nicht, oder?
Leider nein. Die gibt es nicht mehr seit Interessengruppen gemerkt haben, dass das ein politisch gut instrumentalisierbares Thema ist. Allerdings ist die Studienlage so eindeutig, dass man Glyphosat derzeit zulassen muss. Und das wird voraussichtlich auch bei der Zulassungsverlängerung wieder rauskommen. Es sind vier Rapporteur Member States bestimmt worden, um das Verfahren auf noch breitere Füße zu stellen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die EFSA letztlich zu einem negativen Votum kommen kann, zumal, wenn alle Zulassungsbehörden der Welt von Kanada bis Argentinien und von Japan bis Australien und den USA zu dem gleichen Votum kommen, nämlich dass nach den heute gültigen Kriterien Glyphosat zuzulassen ist.
Es wird für die Politik schwierig, weil die Dossiers ein Verbot wohl nicht hergeben werden. Es kommt dann also möglicherweise zu einer politischen Entscheidung, da enormer Druck aufgebaut worden ist. Das wäre dann allerdings das offensichtliche Ende eines fakten- und wissenschaftsbezogenen Zulassungsverfahrens!
Lisa Langbehn, Kurzfassung eines Interviews, erschienen in dem Blog »Salonkolumnisten«
Den vollständigen Beitrag als pdf-Datei finden Sie hier.