Kupierverzicht: Warum funktioniert es in Schweden?

In einigen Ländern gilt schon seit vielen Jahren ein Kupierverbot, so zum Beispiel
in Schweden. Können wir uns mit Blick auf die Haltung dort etwas abgucken?
Nur zum Teil, zeigt Eckhard Meyer.

Skandinavische Länder, in denen seit Anfang der 2000er Jahre ein striktes Kupierverbot gilt, werden als Vorzeige-Beispiele für entsprechende Haltungssysteme gesehen. Eine Fachexkursion einer Bundesarbeitsgruppe zum »Stallbau der Zukunft« hat die Bedingungen in Schweden näher angeschaut, um zu sehen, was möglicherweise auch in Deutschland umsetzbar ist. Schließlich werden in Schweden Schweine im großen Stil unkupiert gehalten.

Tierdichte. Wenig Schweine – hoher Gesundheitsstatus: Vor allem als Folge einer intensiven Tierschutzdebatte werden in Schweden mit 2,6 Mio. Schweinen 2018 nur noch 75 % Selbstversorgungsgrad für Schweinefleisch erreicht. Das entspricht in etwa 1 % des europäischen Schweinebestandes, der sich auf Südschweden konzentriert. Zudem ist der räumliche Abstand der einzelnen Betriebe, in durchaus akzeptabler Größe (Mittel: 158 Sauen, 850 Mastschweine), relativ groß. Das führt nicht zur Freiheit von Erkrankungen, denn auch hier wurden für einen nasskalten November ­typische Atemwegserkrankungen beobachtet. Die allerdings hatten eine eher harmlose Ausprägung. Bei der geringen Tierkonzentration nehmen aber bestimmte gesundheitliche »Kardinalprobleme« nicht den Raum ein wie in Deutschland. Gleichzeitig hat Schweden zum Beispiel kein immunsuppressives PRRS und verbraucht sehr wenige Antibiotika. Offiziellen Statistiken zufolge liegen nur Island und Norwegen in Europa noch darunter.  
Damit bestätigt sich: Das Fundament für den Kupierverzicht ist der Gesundheitsstatus, und die Tiergesundheit ist der rote Faden, der alle Betriebe miteinander verbindet. Bei schlechtem Gesundheitsstatus ist die Anzahl der möglichen Tropfen hoch, die das Fass zum Überlauf bringen können. Bei hohem Gesundheitsstatus sind es nur noch wenige Tropfen, die als Auslöser von Verhaltensstörungen gesehen werden können. Ganz häufig ist es dann »nur noch« die Stoffwechselbelastung. Nach Einschätzung schwedischer Schweinehalter (Umfrage der Universität Skara) sind Futter und Fütterung die Hauptursache, wenn es trotzdem schief geht!

Fütterung. Die Frage, welche Faktoren darüber hinaus am meisten helfen, beantworten Betriebsleiter  und Wissenschaftler immer mit: »Stroh und lange Tröge«! Das Prinzip, jedem Schwein einen Fressplatz zu spendieren, wird in allen Betriebsformen – von der Abferkelbucht bis hin zur Endmast – konsequent umgesetzt. Die nur 30 cm tiefen Tröge, in der Regel aus Polymerbeton, sind gemessen an unseren Vorstellungen für Schulterbreiten (z. B. 34 cm je Mastschwein) meist länger als notwendig und werden überwiegend mit Flüssigfutter mit relativ hohem TS Gehalt (> 27 %) beschickt.
Das Futter mit einem hohen Gerstenanteil ist nicht wesentlich teurer als in Deutschland. Es wird eher wenig (< 17 %) die Leber belastendes Protein mit hoher Wertigkeit (> 1 % Lysin) gefüttert. Schon damit werden wesentliche Punkte der sächsischen Liste zum Kupierverzicht (www.landwirtschaft.sachsen.de/schweinehaltung-12476.html) umgesetzt. Die Fütterung verursacht keinen Stress und unterstützt die Darmgesundheit. Gerste ist das Rückgrat der Rationen, Rohfaser, Protein und Kohlenhydrate unterstützen das Verdauungsvermögen und die positive Darmflora.
Ansonsten ist in Schweden die »hohe Schule der Futteroptimierung«, die um die zweite Stelle hinter dem Komma streitet, gar nicht so verbreitet. Die in Deutschland so weit ausgefeilten Futterkonzepte, angefangen mit der Ammenmilch und Saugferkelbeifütterung bis hin zur Endmast sind quasi unbekannt. So fressen die Saugferkel vom Boden im Ferkelnest gekrümeltes Beifutter oder das Futter der Sauen, was nach Ansicht der Praktiker im Hinblick auf die Absetzdurchfälle besseren Erfolg bringt, als teure Beifutterkonzepte.
Diese  Absetzschwierigkeiten sind allerdings ein Problem und müssen zum Teil mithilfe von Zink im Absetzfutter gelöst werden. Offenbar haben die hierzulande empfohlenen Konzepte ihre Berechtigung. Auch über Rohfaser wird im Rahmen der Fütterung nicht viel geredet. Man geht davon aus, dass der wirklich konsequent und in allen Bereichen praktizierte Einsatz von Einstreu – in der Regel als Minimaleinstreu – die Faserversorgung sichert. Aus unserer Sicht wird Stroh mit dem Ziel der Ernährung meistens überbewertet, es hat mehr eine Art Kaugummieffekt. Stroh ist ein optimales Wühl- und Beschäftigungsmaterial, es ist aber nahezu unverdaulich und der (echte) Verzehr der gefährdeten Aufzuchtferkel nahezu Null. Unser Konzept der Beschäftigungsfütterung ist besser!

Haltungssysteme. Um diese ehrlich zu bewerten, muss zwischen Haltungsfaktoren unterschieden werden, die umgesetzt werden, weil sie der Erfahrung nach effektiv etwas bringen und solchen, die lediglich das Gesetz vorschreibt. Die Tendenz, den Tierschutz auf möglichst gut überprüfbare Kriterien zu reduzieren, die zum Teil damit gar nichts zu tun haben, gibt es auch in Schweden. Ein Abteil ist grundsätzlich so aufgebaut, dass die Technik mit den eingesetzten Strohmengen fertig wird und vermistete Festflächen nicht entstehen. Denn voll perforierte Buchten (maximal 40 %) sind verboten und Einstreu vorgeschrieben.
In der Konsequenz werden die Schweine überall in teilperforierten Buchten gehalten. Im Unterbau laufen Schieberanlagen, die regelmäßig ein Gemisch mit relativ wenig Stroh und viel flüssigen Bestandteilen (Flüssigfütterung = + 25 % Güllemenge) aus dem Stall schaffen. Das Stallklima ist auch durch die größeren Raumhöhen (s. u.) eher besser als bei uns. Eingestreut wird meist von Hand hygienisiertes, entstaubtes und in Ballen gepresstes Häckselstroh. Bei der freien Besamung in Gruppen außerhalb von Kastenständen hilft Tiefstreu, die Fundamente der Sauen zu schonen. Dieses System erfordert ein gewöhnungsbedürftiges »Besamungsrodeo«, was aber gute Ergebnisse liefert. Die Ursache für Abferkelraten zwischen 90 und 100 % ist offenbar der damit verbundene Stress für die Sauen. Dieser treibt die Brunsthormone und zwingt dazu, nahe an der Biologie der Sauen zu besamen. 

Die Minimaleinstreu beschäftigt die wachsenden Schweine, sichert aber nicht die Annahme der Kotbereiche. Grundvo­raussetzung dafür sind kühle Umgebungstemperaturen. Gleichzeitig wird ein Spaltenboden (3-Kantstahl) verwendet, der mit 50 % Schlitzanteil eine maximale Drainierleistung bringt und umso berührungskälter ist, je kühler das Abteil ist. Alle unsere Versuche zeigen, dass sich das Kotverhalten über Temperatur leichter beeinflussen lässt als das Liegeverhalten (Ausnahme Jungtiere). Die Kotstelle ist in der Regel der kälteste Punkt in der Bucht, und der Liegebereich der davon am weitesten entfernte. Voraussetzung ist deshalb ein Temperaturgefälle, was man bei hohen und mit der Außentemperatur schwankenden Abteiltemperaturen (>   20°C) und Zunahmen in deutschen Warmställen einfach nicht hinbekommt.

Die Buchtengeometrie ist der zweite Faktor. Die Buchten sind in Schweden lang und schmal, damit wird das wichtige »Distanzprinzip« gefördert, denn an den langen Buchtentrennwänden sind Kot- und Liegebereich ausgeschlossen. Zudem sind die Aufzuchtbuchten eher klein (3 m x 1,4 m) und für die Aufnahme von 10 bis 14 Wurfgeschwistern vorgesehen. Es wird nur die Stückzahl ausgeglichen, zum Teil erfolgt auch eine Aufzucht in den Abferkelbuchten nach mindestens 28 Tagen, in der Regel aber während der 5. Säugewoche. Ausreichend entwickelte Ferkel und die immunologisch stärkeren Wurfverbände führen in vielen unserer Versuche zu weniger Tätertieren, die mit Schwanzbeißen beginnen!
Damit aber kombinierte Aufzucht-­Abferkelbuchten ohne Ferkelschutzkörbe funktionieren, ist eine Kombination von Betonflächen und Dreikantstahl (bis maximal 50 % der Bodenfläche) obligatorisch. Deutlich kühlere Abteiltemperaturen werden nicht nur durch ein etwas höheres Platzangebot und weniger Tiere im umbauten Raum erreicht, sondern auch durch etwa 1 m höhere Abteile (3 m + x). Selbst im Abferkelbereich wird nur um die Geburt herum mit Temperaturen über 20   ° C gearbeitet, später sind sie deutlich darunter (18   ° C). Somit ist auch die Gefahr stressiger Lüftungssituationen durch zu hohe Strömung, besonders in den Übergangsjahreszeiten, nicht so groß.
Entscheidend ist aber, dass mit den kühleren Abteiltemperaturen die Annahme der vorgesehenen Funktionsbereiche unterstützt wird. In Verbindung mit abgedeckten Liegebereichen wird auch die von uns gewünschte Strukturierung der Bucht realisiert. Diese wirkt förderlich, weil die Schweine dann viel mehr eine Wahl haben. Dieses Prinzip ist offensichtlich nicht nur bei der Haltung, sondern auch bei der Fütterung (Beschäftigungsfutter) entscheidend, wenn man das Tierverhalten positiv beeinflussen will.

Welche Defizite gibt es? Die Buchten für die freie Abferkelung (gemessen: 2,0 bis 2,10  x  3,0 bis 3,20) haben durchweg eingehauste Ferkelnester von 0,5 bis 0,6 m². Sie sind damit viel zu klein, bei 0,85 m² sehen wir in den für Sauen meist zu warmen Abferkelabteilen in Deutschland und für 13 bis 14 gesäugte Ferkel ein Optimum.
Noch größere Ferkelnester überfordern allerdings die Wärmetoleranz der Sauen. Der teure Dreikantstahlboden drainiert optimal, ist aber verletzungsgefährlich (Klauen und Kronsaum). Wird damit bis zu der Hälfte der Bucht ausgelegt, wird unweigerlich ein großer Teil der Ferkel auf dem (unabgedeckten) Stahlboden geboren.
Deshalb sind während der anstrengenden Geburten höhere Abteiltemperaturen (25  °C) erforderlich. Das Liegeverhalten der Sauen wird über einen trapezförmigen Aktivitätsbereich gelenkt, was auch unseren Ergebnissen zu den Bewegungsbuchten entspricht. Bei den schwedischen Buchten liegt die Sau aber unweigerlich mit dem Hinterteil auf dem Stahlboden, gleichzeitig wird Geburtsbetreuung klein geschrieben. Tätertiere in Deutschland sind bei der Geburt eher untergewichtig und weiblich. Somit entsteht die Frage, wie viele der potentiellen Tätertiere so nicht durchkommen. Offiziell liegt die landesweite Ferkelverlustrate allerdings mit 16,9 % in einem noch akzeptablen Bereich. In Wirklichkeit ist sie aber wahrscheinlich höher.

Genetik. 2013 wurde die Landeszucht quasi eingestellt, seitdem werden Tiere von Zuchtunternehmen genutzt. Von der nun durchweg eingesetzten Mutterlinie eines Zuchtunternehmens ist auch in Deutschland bekannt, dass sie im Zusammenhang mit dem Kupierverzicht etwas besser funktioniert. Hampshire-Eber werden viel besser bewertet als die einzige Alternative Duroc, Pietrain ist quasi unbekannt. 75 % der Mastferkel stammen deshalb von Ebern der Rasse Hampshire ab, einer Vatertierrasse, die in Deutschland wegen Fleischqualitätsproblemen (»Hampshire Faktor«) fast ausgestorben ist. Die Ferkelerzeugerbetriebe machen zunehmend eine Rotationskreuzung, das unterstützt das Gesundheitsniveau. Das entsprechende Leistungsniveau in den schwedischen Ställen ist durchaus vorzeigbar, wenn auch die Angaben  (13 – 14 lebend geborene Ferkel, 17 % Saugferkelverluste, 400 – 500 g TZ in der Ferkelaufzucht, > 900 g MFA) auf dem Papier etwas besser aussehen als bei unseren Beobachtungen.

So schaffen es die Schweden

Geringe Tierkonzentration. Einzelhoflagen, kein PRRS, dadurch gesunde Bestände.

Klima. Eher kühlere Durchschnittstemperaturen, weniger Sonnenlicht. Größere Abteilhöhen (290 – 300 cm), kühlere Abteiltemperaturen, dadurch weniger Hitzestress, bessere Annahme der Funktionsbereiche.

Beschäftigungsmaterial. Durchgängig hygienisierte Minimaleinstreu, dadurch Beschäftigung, Annahme der Funktionsbereiche, Faserversorgung.

Kleingruppen. Haltung von Wurfgeschwistern, gesündere Ferkel, eine bessere Tierbeobachtung. 

Strukturierte Buchten. Festflächen von 25 bis 50 %) und etwas mehr Platz, das verbessert das Tierverhalten.

Fütterung. Gefüttert wird am Langtrog (sogar die säugenden Sauen) und flüssig, keine Sensorfütterung, keine Rohrbreiautomaten, dadurch weniger Stress, weniger Nekrosen, günstigeres Tierverhalten.

Ruhige Sauen, dazu passende Eber, so gibt es auch entspannte Ferkel.

Wenn es ein Problem der schwedischen Schweinehaltung gibt, liegt es eindeutig in der Ferkelaufzucht und hat sicher mit der Fütterung zu tun. Fakt ist aber, dass bei diesen Schweinen ein Verletzungsniveau beobachtet wurde, das in keinem der von landwirtschaftlichen Laien ausgesuchten und vorgestellten Betriebe 2 bis 3 % überschreitet. Das entspricht auch den Angaben aus landesweiten Erhebungen der Universität Skara. Wir haben tatsächlich keine nennenswerten Probleme gesehen, was nach praktischer Einschätzung nicht daran liegt, dass die Schwänze der Ferkel schon bei der Geburt möglicherweise genetisch etwas kürzer sind.
Der Grund liegt offenbar tiefer in den Schweinen veranlagt. Betritt man alleine und in Ruhe die Buchten der für Verhaltensstörungen gefährdeten Aufzuchtferkel, muss man neidlos anerkennen, dass sie sich anders benehmen als in Deutschland. Die schwedischen Schweine sind auch aktiv und neugierig, aber eher zurückhaltend und  wirken nicht wie hyperaktive Kinder. Verhaltensstörungen sind nicht wie so oft beschrieben die Folge von Aggressionsverhalten. Sie entstehen überwiegend aus dem Aktivitätsverhalten. Indem Schweine dazu neigen, alles zu übertreiben, übertreiben sie auch die  Beschäftigung mit dem Sozialpartner. Daran hat die Haltung sicherlich einen Anteil, das Fundament liefern Zucht und Gesundheit, eventuell aber auch die Einstellung der Tierbetreuer. Diese müssen von Anfang an mehr am Tier sein, wobei die Angaben zum Arbeitskräftebesatz der Betriebe mit 150 Sauen je AK offensichtlich keine utopische Arbeitsbelastung widerspiegeln.
Die Verhaltensstörungen entstehen, wenn überhaupt und anders als bei uns, nicht im letzten Drittel der Ferkelaufzucht, sondern erst im letzten Drittel der Mast. Hier werden in Deutschland heute z. T. 3 000 bis 5 000 Schweine von einer Person betreut, weil die bestehenden Systeme und Erlöse eine solche Arbeitsproduktivität erfordern. Von uns beratene Betriebe, die in den Kupierverzicht eingestiegen sind, haben teilweise den Arbeitsaufwand vervierfachen müssen! Die Frage, ob diese erforderliche Mehrarbeit geleistet werden kann, hängt nicht nur von den Kosten ab. Mit steigenden Erlösen kann man das Problem nur theoretisch bezahlen. Viel problematischer ist, dass es diese Arbeitskräfte in Deutschland gar nicht gibt.

Dr. Eckhard Meyer, LfULG, Lehr- und Versuchsgut Köllitsch

Aus DLG-Mitteilungen 5/20. Den vollständigen Artikel als pdf finden Sie hier.

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