Brexit. »Der Handel normalisiert sich nur schwer«

Seit Januar ist das Vereinigte Königreich für die EU-Mitglieder ein Drittland. Welche Folgen der Brexit vor und nach dem Ausstieg für Deutschland und das Inselreich hatte – und was uns für die Zukunft erwartet –, darüber haben wir mit Martin Banse gesprochen.


Herr Banse, wie hat sich der Agrarhandel zwischen Deutschland und dem Vereinigten Königreich in den vergangenen Jahren entwickelt?
Deutschland und das Vereinigte Königreich unterhalten enge Handelsbeziehungen im Agrarbereich. Bezeichnend für den Handel war ein Boom im Agrarhandel in den Jahren 2010 bis 2015, der fast alle Produktbereiche erfasste. Der Saldo ist gravierend auf 3,3 Milliarden Euro im Jahr 2015 gestiegen. Mit keinem anderen Land in der EU hat Deutschland einen solchen Außenhandelsbilanzüberschuss im Agrarbereich erwirtschaftet. Insofern ist zu verstehen, dass die Nahrungsmittelwirtschaft nach dem Referendum gravierende Auswirkungen befürchtet hat, denn UK ist ein wichtiger Markt.

Was hat sich seit dem Referendum geändert … ?
Die Analysen des Thünen-Institutes machten deutlich, dass die deutsche ­Agrarbranche bei einem Brexit mit einem blauen Auge davonkommen könnte. Die bis 2015 beobachtete Dynamik der Handelsentwicklung hat sich zwar deutlich abgekühlt. Es kam aber auch im Vorfeld des Brexits zu keinem drama­tischen Einbruch. Der Anstieg der ­Agrar­exporte zwischen 2010 und 2015 in das UK als Mitglied des EU-Binnenmarktes war ja nicht getrieben durch den Wegfall von Zollschranken oder Ähnlichem. Er gründete auf dem Wettbewerbsvorteil der deutschen Anbieter. Auch auf britischer Seite verblieben die Ausfuhren an Nahrungs- und Genussmitteln nach Deutschland auf einem recht stabilen Niveau. Im vergangenen Jahr spielte die Corona-Pandemie sicherlich eine Rolle, aber schottischer Whisky – der mehr als die Hälfte der Exporterlöse dieser Warengruppe nach Deutschland ausmacht – wird immer noch gerne getrunken.

… und was seit dem offiziellen Austritt im Januar?
Im Vorfeld machten Berichte die Runde, wonach viele Lkw voll beladen Richtung Vereinigtes Königreich gefahren sind und leer zurückkamen. Das hatte vor allem mit Bevorratung zu tun. Seit dem offiziellen Austritt im Januar 2021 hat sich der Handel verändert. Vor allem im Januar ist der Handel in beide Richtungen dramatisch eingebrochen. Diese Situation hat sich seitdem wieder etwas erholt. Und trotzdem: Im Mai hat sich der Wert der Agrarexporte Deutschlands nach UK im Jahresvergleich über alle Produktgruppen um 16 % verringert. Bei Fleisch beträgt das Minus ein Drittel, bei Milchprodukten sind es 10 % weniger. Ähnlich deutliche Einbrüche sieht man auch bei anderen Produktgruppen wie Obst und Gemüse sowie Getreide und Ölsaaten. Lediglich bei den Exporten von Genussmitteln lag das Niveau im Juni 2021 über dem Niveau des Vorjahres.

Was sind die Gründe für die Einbrüche?
Bei Obst und Gemüse betrifft dies wohl vor allem Fragen zu Herkunftsbezeichnungen. Es wird deutlich, dass Zertifizierungen und Standards verstärkt in den Handel eingreifen. Je homogener ein Produkt ist, etwa bei Ölsaaten oder Getreide, desto schneller etablieren sich neue Handelswege. Bei den Spezialitäten ist das allerdings nicht der Fall. Die geforderten Herkunftsnachweise von Rohstoffen bei Ausfuhr verarbeiteter Waren dürften eine immer wichtigere Rolle spielen. Etwa für Brauereien aus der EU, die zum Teil seit Jahrzehnten Gerste aus dem Vereinigten Königreich verarbeiten, und die beim Export ihrer Produkte nachweisen müssen, dass die verarbeitete Gerste vollständig aus der EU stammt.
Diese Regeln werden immer dort besonders greifen, wo es um hochverarbeitete Produkte geht, und obendrauf kommen noch die weiteren Zollformalitäten.

Was bedeuten diese Absatzeinbrüche für Deutschlands Agrarbranche?
Es wird gerne vergessen, dass der EU-Binnenmarkt auch für den deutschen Agrarhandel der wichtigste Handelsplatz ist. Dort werden etwa drei viertel aller Umsätze generiert. Die Bedeutung des EU-Intrahandels hat über die Jahre im Export nicht nachgelassen – bei den Importen hat dessen Bedeutung hingegen leicht zugenommen.

Sind die angesprochenen Reibungspunkte auf kurze oder mittlere Sicht lösbar?
Ich gehe davon aus, dass logistische Probleme und auch Abwicklungsfragen an der Grenze zeitlich befristet sind und sich einspielen werden. Durch mehr Abwicklungsterminals oder technische Möglichkeiten im Bereich der Digitalisierung, wie beispielsweise Blockchain, lassen sich Fragen zur Nachverfolgung und Abwicklung von Warenströmen einfacher regeln.
Was ich als sehr wichtig erachte, betrifft die Frage, wie sich das Vereinigte Königreich bei grundlegenden Entscheidungen zu künftigen technischen Standards aufstellen wird? Ich denke an Entscheidungen zur Zulassung von gentechnisch veränderten Produkten, Hygienestandards oder den Umgang mit Tierseuchen und anderem. Wenn London und Brüssel hier in diesen sensiblen Bereichen künftig eigene und unterschiedliche Wege beschreiten, wäre der Agrarhandel besonders stark betroffen – und zwar nachhaltig. Dann würde sich der Handel neu ausrichten.

Wann ist mit einer Normalisierung der Warenströme zu rechnen?
Ich denke, dass wir wohl nie wieder zu dem Niveau vor dem Brexit zurückkehren werden.

Sie klingen sehr überzeugt.
Ich bin der festen Ansicht, dass für das Vereinigte Königreich besonders der Austritt aus dem gemeinsamen Binnenmarkt langfristig negative Folgen haben wird. Der Binnenmarkt erleichtert Markt- und Vertragsbeziehungen und fördert die Bereitschaft auch bei kleineren Unternehmen, internationale Handelsbeziehungen einzugehen.
Die nun anstehenden, komplizierten Zollverfahren stellen für große, exportorientierte Unternehmen, die Abteilungen für das Drittlandgeschäft haben, keine Herausforderungen dar. Aber kleine Unternehmen, in denen Geschäfte oft nur von einer Handvoll Personen abgewickelt werden, werden von dem bürokratischen »Handelskram« im Drittlandsgeschäft wohl eher abgeschreckt. Das gilt natürlich in beide Richtungen, und vermutlich sind hier Handelsbeziehungen bereits unwiederbringlich in die Brüche gegangen.
Das gilt wie gesagt für die kleinen Unternehmen. Bei den großen sieht dies anders aus. Arla hat in dem Jahrzehnt vor dem Brexit im Vereinigten Königreich stark investiert und dort eigene Produktionskapazitäten aufgebaut. Ich denke, dass sich Arla wegen des Brexits nicht aus dem UK-Markt zurückziehen wird. Aber vielleicht werden sie ihn jetzt als Markt außerhalb des Europäischen Binnenmarktes betrachten.
Kann das Vereinigte Königreich die Verluste im Handel mit der EU über eigene Handelsabkommen ausgleichen?
Das hängt natürlich von den potentiellen neuen Handelspartnern ab. Beim Aushandeln neuer Handelsabkommen darf nicht vergessen werden: Das Vereinigte Königreich ist jetzt auf sich allein gestellt und ihre Verhandlungsmasse ist deutlich kleiner geworden. Sie haben nur noch den eigenen Markt mit 67 Millionen Einwohnern anzubieten, statt der rund 513 Millionen Einwohner einer EU-28.

Ist die EU für das Vereinigte Königreich als Anbieter oder Abnehmer wichtiger?
UK ist ein Land mit einem traditionellen Importüberschuss im Agrarhandel. Es ist der klassische Agrarimporteur in Europa: Kein anderes Flächenland in Europa hat einen so niedrigen Selbstversorgungsgrad bei Agrarprodukten und Lebensmitteln. Daher wird das Vereinigte Königreich auch langfristig auf Importe angewiesen sein.

Und das schwächt die Position bei Handelsabkommen zusätzlich …
Richtig. Wenn das UK aus einer Nettoimportposition heraus mit Ländern Handelsabkommen schließt, dann geht es in erster Linie um den Marktzugang auf den Britischen Inseln. Mit dem Commonwealth haben sie schon eine recht große Freihandelszone. Die ist nicht völlig ohne Reglementierung, denn auch hier gelten Standards. Wenn das Vereinigte Königreich nun ein Handelsabkommen etwa mit den USA anstrebt, dann wird es wohl eher um den Außenhandel anderer Wirtschafts- und Industriezweige und viel weniger um den Agrarhandel gehen.

Die Fragen stellte Markus Wolf

Aus DLG-Mitteilungen 9/21. Ein pdf-Dokument des Beitrages finden Sie hier.