
Insektensterben. Mythen und Fakten
Über Insekten erzählt jeder etwas anderes – und dies oft je nach Interessenslage. Dabei weiß die Wissenschaft recht genau, was ihnen schadet und wie man sie fördert, zeigt Sarah Redlich.
Längst ist der Insektenschwund mehr als nur ein Gerücht oder eine mehr oder weniger zufällige »Windschutzscheiben-Beobachtung«. Die Forschung zeigt: Nicht nur die Biomasse, auch die Artenvielfalt und Häufigkeit der Insekten ist seit Jahrzehnten rückläufig. In Deutschland weisen ca. 14 600 Insektenarten eine negative Bestandsentwicklung auf. Das sind immerhin 44 % aller bekannten Arten. Doch während sensationsheischende Titelseiten das nahende »Insekten-Armageddon« verkünden, fällt es der Öffentlichkeit meist schwer, zwischen Fakten und Mythen zu unterscheiden. Das liegt vor allem daran, dass nicht alle Arten gleichermaßen betroffen sind und manche Insekten sogar positive Entwicklungen zeigen.
Überraschend: In Städten ist der Rückgang der Insekten weniger deutlich als auf Ackerbaustandorten. Zwischen 2008 und 2017 wurden die Insektenpopulationen auf 150 Grünland- und 140 Waldflächen in Deutschland untersucht. Über diese zehn Jahre beobachteten Forscher in beiden Lebensräumen zwar einen ähnlichen Rückgang der Insektenbiomasse um etwa 35 %, aber auch eine generell höhere Insektenbiomasse auf den weniger intensiv genutzten Waldflächen (Grafik 1, Seite 16). Ein noch deutlicheres Bild zeichnete sich für die Artenvielfalt und Häufigkeit der Fluginsekten ab. In beiden Fällen war der Rückgang im Grünland deutlich höher als auf den Waldflächen.
Diesen Einfluss menschlicher Aktivitäten auf die Insektenbiomasse untermauert auch unser Projekt LandKlif. LandKlif steht für LandKlimaForschung und erforscht die Zusammenhänge zwischen Klima, Landnutzung und biologischer Vielfalt auf 179 Untersuchungsflächen in Bayern. Erste Ergebnisse für Fluginsekten zeigen: Je größer der menschliche Einfluss auf unsere Ökosysteme ist, desto weniger Insektenbiomasse und -arten findet man (Grafik 2). So war im Vergleich zu Wäldern die Biomasse in Siedlungen im Durchschnitt um 22 % niedriger. Dagegen wiesen ackerbaudominierte Lebensräume etwa 27 % weniger Arten auf als Wälder, bei gefährdeten Rote-Liste-Arten waren es sogar 46 %. Ähnliche Muster zeichneten sich für die wichtige Gruppe der Bestäuber ab. Nur einzelne Insektenfamilien »flogen« gegen den Strom. Die Artenvielfalt von Bienen auf landwirtschaftlichen Flächen ist sehr niedrig, sie scheinen aber von der bunten Mischung aus kultivierten und teils exotischen Pflanzen in Siedlungsgebieten zu profitieren. Schmetterlinge dagegen waren in allen vier Lebensräumen ähnlich artenreich, was vermutlich an einem schon früher erfolgten Verlust an Arten auch in naturnahen Lebensräumen liegt.



Biomasse nicht gleich Artenvielfalt! Aus der Biomasse an Insekten kann man nicht zwangsläufig auf die Artenvielfalt schließen und umgekehrt. Das liegt nicht zuletzt an den sehr unterschiedlichen Anforderungen der verschiedenen Insektenarten an ihre Umwelt. So waren in unseren Untersuchungen Käfer und Schnabelkerfen (dazu gehören z. B. Zikaden) sowie Hautflügler (Bienen, Wespen) an Standorten mit niedriger Gesamtbiomasse fast genauso artenreich wie an Standorten mit hoher Biomasse. Das gilt vor allem in weniger intensiv genutzten Lebensräumen wie Wald oder Grünland. Im Gegensatz dazu waren großen Arten wie Schmetterlinge und Heuschrecken im Ackerland immer nur dann in großer Artenzahl vertreten, wenn auch die Gesamtbiomasse der Insekten hoch war. Aufgrund der gegensätzlichen Trends lohnt daher immer ein differenzierter Blick auf verschiedene Insektengruppen.
Nicht alle Insekten sterben gleich – oder wenigstens nicht in demselben Tempo. So gibt es Unterschiede zwischen Arten, Familien, funktionellen Gruppen (Bestäuber oder Räuber) und der Lebensweise (Generalisten bzw. Spezialisten). Die Biomasse der Zikaden etwa verzeichnete über einen Zeitraum von 40 bis
60 Jahren zwar einen Rückgang um 54 % auf ostdeutschen Trockenrasen. Gleichzeitig wurde jedoch ein leichter Anstieg der Zikadenvielfalt beobachtet. Der Grund dafür liegt vermutlich in einer Umstrukturierung der Artengemeinschaften – ein Prozess, der häufig stattfindet, wenn Menschen Einfluss auf natürliche Ökosysteme nehmen. In diesem Prozess werden spezialisierte Arten, die oft selten sind und daher als besonders gefährdet gelten, durch Generalisten ersetzt, die mit den zunehmend homogenen Lebensräumen gut zurechtkommen.
Eine Abnahme der Insektenvielfalt bleibt daher anfangs aus. Bleibt die Intensität der Landnutzung aber über einen langen Zeitraum hoch, dann kollabieren die Lebensraumnetzwerke und damit einhergehend ganze Populationen. Denn anders als bei spezialisierten Arten, die eine geringe genetische Variabilität aufzeigen, ist genetische Vielfalt und damit der genetische Austausch zwischen lokalen Populationen existentiell für die Fitness und Anpassungsfähigkeit von Generalisten – und somit ihr Überleben. Dieser Unterschied zwischen Generalisten und Spezialisten sowie der zeitlich verzögerte Rückgang wurde auch bei Schmetterlingen festgestellt. Zwischen 1972 und 2001 nahm das Vorkommen einheimischer seltener Arten auf Kalkmagerrasen in Norddeutschland um über 50 % ab, während der Rückgang häufiger Arten nur etwa 15 % betrug. Zwanzig Jahre später jedoch zeigten europaweite Studien negative Bestandsentwicklungen aller häufigen Schmetterlingsarten des europäischen Grünlands auf.
Hinzu kommt der Lebensraum: Populationen wasserlebender Insekten entwickelten sich zuletzt positiv. Möglicherweise trägt der Gewässerschutz Früchte. Ein Einfluss der Erderwärmung durch den Klimawandel oder Effekte durch Nährstoff-einträge sind jedoch auch denkbar.

Die Bedrohung für Insekten kommt zwar aus allen Richtungen. Bisherige Studien zeigen jedoch, dass der Verlust an Lebensraum, Umweltverschmutzung und Klimawandel als übergeordnete Gründe genannt werden können. Gleichzeitig können Wechselwirkungen zwischen unterschiedlichen Stressoren den negativen Einfluss der einzelnen Faktoren noch verstärken.
Verlust an Lebensraum.
Alle Insekten benötigen einen auf sie zugeschnittenen Lebensraum. Durch die Eingriffe des Menschen in die Natur gehen viele dieser speziellen Lebensräume verloren. So sanken Häufigkeiten und Artenzahlen besonders rasant auf Grünland, das von viel Ackerland umgeben war. Intensiv bewirtschaftete Agrarlandschaften mit großen Schlägen oder Monokulturen sind strukturell stark vereinfacht, es mangelt an wichtigen Ressourcen und Lebensräumen. Nicht weniger fatal ist die Abholzung von Wäldern, der Anbau von Forst-Monokulturen und der Abtransport von Totholz. Die Konsequenzen für viele Insekten sind dramatisch. Denn in unseren deutschen Kulturlandschaften stellen Wälder wichtige naturnahe Refugien dar, was sich unter anderem in der höheren Biomasse und Artenvielfalt widerspiegelt.
Die zunehmende Urbanisierung und Versiegelung ist ebenfalls eine treibende Kraft. Die deutlich geringere Biomasse und Artenvielfalt in Siedlungsgebieten ist ein Hinweis darauf, dass die oft erhöhte Pflanzenvielfalt in städtischen Gebieten (Parks, Straßenbegleitgrün und Privatgärten) den negativen Auswirkungen der Bodenversiegelung und dem Lebensraumverlust wenig entgegenzusetzen hat. Auch ist die Umweltverschmutzung in Städten zumeist höher als auf dem Land.
Ein Musterbeispiel für Vielfalt
Insekten sind mit über 925 000 Arten die artenreichste Klasse des Tierreiches. Allein in Deutschland kommen über 33 300 Arten vor, das sind etwa 50 % aller heimischen Tier- und Pflanzenarten und 75 % aller Tierarten. Ihre Vielfalt übertrifft damit die der Pflanzen und Pilze bei Weitem (Grafik 3). Diese Vielfalt ist nicht zuletzt ihrer Anpassungsfähigkeit geschuldet. In den letzten 475 Mio. Jahren besiedelten Insekten von subpolaren Gebieten bis zum Äquator jedes noch so vermeintlich lebensfeindliche Ökosystem – nur im offenen Meer sucht man sie vergebens. Dabei entwickelten sie eine Vielzahl an Überlebensstrategien – von faszinierenden physiologischen Anpassungen zu ungewöhnlichen Verhaltensweisen.
Vom Schädling zum Nützling ... Ebenso vielseitig wie ihre Form sind die Funktionen, die Insekten in unseren Ökosystemen übernehmen. Insekten sind ein unabdingbarer Bestandteil des Nahrungsnetzwerkes. Sie dienen als Beuteorganismen für Reptilien, Fische und Vögel und halten als Zersetzer und Pflanzenfresser lebensnotwendige Stoffkreisläufe in Gang.
Als Schädlinge von Nutzpflanzen können sie Ertragsverluste von bis zu 30 % verursachen. Im Gegenzug vertilgen räuberische Exemplare wie Laufkäfer oder Schwebfliegenlarven große Mengen an Schädlingen. Neunzig Insektenarten (u. a. der Asiatische Marienkäfer) werden gezielt zur Bekämpfung von Schadorganismen in der Landwirtschaft eingesetzt.
... bis hin zum Bestäuber. Weltweit sind mindestens 107 Kulturpflanzen von tierischer Bestäubung abhängig. 43 Kulturen weltweit (bei uns etwa Äpfel, Kirschen und Raps) erleiden bei fehlender Bestäubung Ertragseinbußen von über 40 %. Auch die Produktion von Bienenwachs, Seide, Bio-Kraftstoffen, sogar der Farbstoff in Kosmetikprodukten und so manches Medikament ist abhängig von Insekten.

Umweltverschmutzung
Ein wichtiger Faktor ist die permanente Lichtverschmutzung in städtischen Gebieten. Die großen Verlierer sind nachtaktive Fluginsekten. Allerdings ist die Beweislage bisher unzureichend, denn großflächige Langzeitstudien mit unterschiedlichen Insektengruppen fehlen. Anders sieht es bei der Verschmutzung von Gewässern, zum Beispiel durch industrielle Abwässer oder fehlende Kläranlagen, aus. Ein Beispiel: Die Libellenart Asiatische Keiljungfer galt noch in den 1980 er Jahren in Westdeutschland als ausgestorben. Nicht zuletzt die Verbesserung der Wasserqualität hat dazu beigetragen, dass diese und andere Süßwasserinsekten wieder an vielen Flüssen und Seen zu finden sind. Das Titelbild dieses Heftes zeigt übrigens die Gelbe Keiljungfer.
Die Überdüngung landwirtschaftlicher Flächen und die Ausbringung von Herbiziden führt zu einem Rückgang von Ackerwildkräutern und zu monotonen Pflanzengesellschaften. Wichtige Knotenpunkte des Nahrungsnetzwerkes gehen damit verloren, abhängige Insekten verhungern. Fettwiesen sind oft artenarm. Ihr üppiger Pflanzenwuchs schafft kühle mikroklimatische Bedingungen, welche die Entwicklungszeit vieler Insektenlarven verlangsamen. Insektizide dagegen töten meist direkt. Doch auch die auf den ersten Blick nicht tödlichen Wirkungen sind oft fatal: geringere Fitness und Fortpflanzungsfähigkeit, Orientierungslosigkeit und Anfälligkeit für Krankheiten. Tragisch, wenn dies nicht nur die eigentlichen Schadorganismen betrifft, sondern unbeteiligte Insekten wie Räuber oder Bestäuber.
Klimawandel
Anders als der Verlust an Lebensraum und die Umweltverschmutzung ist der zunehmende Wandel des Klimas nicht immer nachteilig für Insekten. Vor allem die steigenden Jahresdurchschnittstemperaturen können sich in allen Lebensräume positiv auswirken. Wärme erhöht den Stoffwechsel der Insekten und damit auch die Fortpflanzungsrate. Allerdings nur, solange ein Schwellenwert nicht überschritten wird.
Gleichzeitig bedeutet die Zunahme von Jahren mit wärmeren Jahresmitteln nicht, dass alle Arten profitieren. Bei den Bestäubern in Bayern gibt es Gewinner und Verlierer im Hinblick auf den Klimawandel. So reagierte die Artenvielfalt von Schwebfliegen negativ auf eine Erhöhung der lokalen Temperatur und des regionalen Niederschlags, während Käfergemeinschaften in warmen oder niederschlagreichen Regionen vielfältiger waren. In der Summe jedoch hoben diese unterschiedlichen Trends sich gegenseitig auf. In vielen Fällen bleibt die Veränderung auf den ersten Blick daher vermutlich unentdeckt, da kälteadaptierte Insekten durch wärmetolerante Arten ersetzt werden und neue Arten das Artenspektrum ergänzen. Artengemeinschaften in verschiedenen Regionen werden dadurch in einem ersten Schritt homogener, bis auch die thermischen Schwellenwerte der neuen Arten überschritten werden.
Studien belegen außerdem, dass oft nicht die Klimaerwärmung per se, sondern die Zunahme extremer Wetterereignisse wie Stürme und Dürren den größten Einfluss auf den Insektenschwund haben. Dabei sind Insekten zumeist in der Lage, einmalige Wetterumschwünge und Extreme gut zu überstehen. Häufen sich jedoch die Ereignisse, dann stoßen auch die robusten Insekten an ihre Toleranzgrenzen. Besonders betroffen von wiederkehrenden Dürren sind Insektenarten, die im Boden leben oder wenig mobil sind. Bodenlebende Insekten werden mit zunehmender Trockenheit kleiner, die Insektenbiomasse nimmt ab und die Zersetzung organischer Substanzen wird verlangsamt.
Fazit. Bei der Diskussion um die Ursachen des Insektenschwunds wird eines oft vergessen: Insekten – wie alle anderen Tiere – sind Teil eines komplizierten, äußerst fragilen Netzwerkes. Jegliche Störung innerhalb des Netzwerkes, sei es durch den Verlust an Lebensraum, Umweltverschmutzung oder den Klimawandel, birgt die Gefahr eines Ungleichgewichtes, das letztlich das Aussterben einer Art und den Zusammenbruch ökologischer Funktionen bedeuten kann.
Verschwindet die Futterpflanze oder die Wirtsameise, folgt über kurz oder lang auch das darauf spezialisierte Insekt. Fehlen die Bestäuber, führt dies zum Rückgang von Wildblumen und zu Ertragsverlusten für die Landwirtschaft. Nimmt die Zahl der natürlichen Räuber wie Marienkäfer oder Schwebfliegen durch übermäßigen Insektizideinsatz ab, nehmen die Schädlinge überhand.
Diese Störung der Interaktionen zwischen Tieren, Pflanzen und der Umwelt kann auch durch invasive Arten erfolgen, die häufig dort auftauchen, wo der Mensch in die Natur eingreift. Diese Arten sind oft an extreme Situationen angepasst und somit die eigentlichen Gewinner des globalen Wandels.
Dr. Sarah Redlich, Lehrstuhl für Tierökologie und Tropenbiologie, Universität Würzburg
Aus DLG-Mitteilungen 12/21. Den vollständigen Beitrag als pdf finden Sie hier.