
Perspektiven. In alle Richtungen denken
Herausfordernde Zeiten verlangen Wandel und Veränderung. Jeder geht damit unterschiedlich um. Immer gilt: Unternehmertum bedeutet, Alternativen zum aktuellen Handeln in Erwägung zu ziehen. Kay Tönnsen zeigt, wie man die Übersicht behält.
Weitermachen oder aufhören, wachsen oder weichen, zu- oder verpachten, Geschäftsfelder entwickeln oder einstellen, den eigenen Betrieb bewirtschaften lassen oder sogar verkaufen? Das sind Fragen, die sich viele landwirtschaftliche Unternehmer stellen und auf die es Antworten braucht. Der technische Fortschritt und die Weiterentwicklung der Produktionsprozesse spielen seit Jahrzehnten eine wesentliche Rolle, sodass zunehmend effizient wirtschaftende Unternehmen das Bild der deutschen Landwirtschaft prägen. Und dennoch gibt es seit Ende des Zweiten Weltkrieges einen Strukturwandel, denn in jedem Jahrzehnt haben sich Betriebe und Familien für einen Ausstieg oder Teilausstieg aus der aktiven Landwirtschaft entschieden. Dieser Prozess führte dazu, dass andere Betriebe dementsprechend Wachstumsschritte umsetzen konnten.
Anspruch und Wirklichkeit sind in vielen Bereichen nicht deckungsgleich. Gesellschaftliche Wünsche sind ebenso zahlreich vorhanden wie politische Visionen, was den Umbau der Landwirtschaft angeht. Immer wieder tauchen Zielkonflikte auf, die verdeutlichen, wie unterschiedlich die Positionen und Interessen der jeweiligen Beteiligten sind. In den vergangenen acht bis zehn Jahren wurde zunehmend deutlich, dass die Anforderungen im Umwelt- und Tierschutz, Tourismus und Erholungsraum aber auch der Zielkonflikt um die Fläche für Bau- und Infrastrukturprojekte steigen. Die landwirtschaftlichen Akteure sind in diesen Bereichen immer als Beteiligte betroffen, aber oft nicht gut eingebunden.
Objektiv wirken gleiche Faktoren von außen auf die Unternehmen ein: Grund und Boden ist knapp, Kapitalkosten sind in der Regel (je nach Rating) identisch hoch, Arbeitskräfte stehen je nach Region mehr oder weniger zur Verfügung. Die politischen Entscheidungen betreffen alle, auch wenn die Ausgestaltung auf Landesebene unterschiedlich sein kann. Die Marktpreise für die Erzeugnisse sind bis auf Nuancen ebenfalls identisch. Dagegen sind die Naturalräume sehr heterogen, sodass die Ressourcen wie z. B. Wasser und Temperatur maßgeblich Einfluss auf die Naturalerträge haben. Weitere Chancen wie z. B. regenerative Energie, Direktvermarktungsmöglichkeiten sowie Immobilienprojekte und andere betriebliche Entwicklungsfelder sind höchst unterschiedlich.

Nicht nur die Wahrnehmung und der Umgang mit den aktuellen Themen ist sehr unterschiedlich, sondern auch das Empfinden und Erleben der täglichen Arbeit variiert bei den Unternehmern stark. Die Polarität reicht von totaler Überforderung bzw. Burn-out bis zum coolen und gelassenen Umgang. Die Betriebe sind verschieden organisiert und strukturiert, wie die Menschen höchst unterschiedlich in ihrer Typologie gestaltet sind. Das bedeutet auch, dass der individuelle Stresspegel in den Betrieben nicht unterschiedlicher sein könnte. Der Blick auf identische Situationen fällt weit auseinander, sodass das Bild vom halb vollen oder halb leeren Wasserglas nicht treffender für die individuelle Wahrnehmung sein könnte.
Zudem ist jeder Betrieb in seiner Kapital- und Vermögensstruktur unterschiedlich. Das Dreieck aus Stabilität, Rentabilität und Liquidität ist in der Praxis in allen Ausprägungen und Facetten zu finden. Und die Unternehmer gehen mit einer angespannten Liquiditätssituation oder einem hohen Kapitaldienst verschieden um und die empfundene Belastung ist individuell. Aus all den genannten Punkten ist zu folgern, dass die Unternehmer bezogen auf die heutigen und zukünftigen Veränderungen sowie Herausforderungen sowohl auf Basis der betrieblichen Ressourcen als auch aus der persönlichen Individualität heraus unterschiedlich reagieren und sogar reagieren sollten, da es kein allgemeingültiges Konzept gibt.
Landwirtschaftliche Unternehmer wollen und müssen mit ihrer Tätigkeit Geld verdienen, den Kapitaldienst bedienen, Investitionen tätigen und Rücklagen bilden. Nur dann wird das Bedürfnis nach Sicherheit und Stabilität bedient. Zusätzlich wollen sie in ihrer Tätigkeit einen guten Job machen und sich mit ihrem Tun und Handeln identifizieren. Dabei geht es um die Identität und Sinnhaftigkeit. Weiterhin möchten die handelnden Personen erleben, dass sie in ihrem »Job« als kompetent wahrgenommen werden und ihre Expertise respektiert wird. Dieses Kompetenzerleben ist wichtig. Da jeder Mensch das Bedürfnis der Anerkennung und Wertschätzung hat, stellt sich die Frage, von wem die Anerkennung für das Tun und Handeln ausgesprochen wird: vom Finanzamt, dem Nachbarn, den Mitarbeitern, der Gesellschaft, dem Partner oder dem Berater?
Individuell, sowohl persönlich als auch betrieblich, sind diese Bedürfnisse der Landwirte in den vergangenen Jahren sehr unterschiedlich bedient worden. Wenn diese bei Menschen über einen längeren Zeitraum nicht oder nur rudimentär erfüllt werden, entsteht Unwohlsein, Mangel und am Ende Stress. Personen in der Gesellschaft, die nicht in der Landwirtschaft tätig sind, haben selbstverständlich ebenfalls Bedürfnisse nach Sicherheit (Einkommen) und Erholung (in der Natur), die erfüllt sein sollten. Diese stehen u. a. im Zielkonflikt zu den Bedürfnissen der Landwirte. Häufig sind diese sogar identisch aber die Interessen verschieden, was zu Konflikten führt. In vielen Gesprächen mit Landwirten wird deutlich, dass der Umgang mit den genannten Aspekten sehr unterschiedlich und die Wahrnehmung der aktuellen Situation subjektiv ausfällt. Die Chancen und Risiken, aber auch die Stärken und Schwächen, werden von den Unternehmern höchst differenziert wahrgenommen, bewertet und angegangen. Daraus wird auch ersichtlich, dass es nicht die eine Situation und die eine Wahrheit gibt. Dementsprechend schwierig ist es sowohl für die Interessenvertreter der Branche als auch für die politischen Akteure, ein Zukunftsbild der Landwirtschaft zu zeichnen und umzusetzen.
»Nichts ist beständiger als der Wandel« mag für den einen oder anderen als »abgedroschen« klingen. Für einige Unternehmer ist dieser Satz alltäglich und wird gelebt. Diese erkennen zukünftige Chancen, haben den Betrieb und die Abläufe gut organisiert, besitzen ein gutes Stressmanagement und können die Mitarbeiter lenken und leiten. Zudem verfügen sie über eine gute betriebswirtschaftliche Analyse der Zahlen in Verbindung mit wirtschaftlicher Stabilität. Dieser beschriebene Anteil stellt aktuell allerdings nicht die Mehrheit dar.
Für viele andere Unternehmer ist der Wandel eine Herausforderung. Es ist immer wieder festzustellen, dass es trotz physischer und psychischer Belastungen nicht leichtfällt, Veränderungen einzuleiten. Das Gefühl, in einem Hamsterrad aus zu viel Arbeit und knapper Zeit zu laufen, teilen einige. Hinzu kommt bei Landwirten verstärkt der Eindruck, dass es der Politik und der Gesellschaft nicht rechtzumachen ist und sie sich ohnmächtig fühlen. Häufig nehmen sie ein Dilemma aus Ungerechtigkeiten und Überforderung wahr. Es besteht der Wunsch nach einer Verbesserung der persönlichen und betrieblichen Situation. Das aber gerade dazu eigenmächtiges Handeln erforderlich ist, wird oft nicht angenommen, sondern es besteht der Wunsch, dass es von selbst besser wird und sich die Situation ändert. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.

Folgender Grundsatz gilt im Coaching: Raus aus der Ohnmacht, rein in die Eigenmacht! Dass dieser Grundsatz nicht immer einfach umzusetzen ist, ist absolut nachvollziehbar, zumal auf die beteiligten Personen oft weitere Aspekte wie Familientraditionen oder Glaubenssätze wirken. Dieses ist damit verbunden, dass es für Änderungen und Anpassungen der Situation Mut, Kraft und Energie braucht. Für unser Gehirn sind alte Verhaltensmuster energiesparend. Neue Wege, andere Verhaltensmuster oder angepasste Strukturen sind ungewohnt, kosten Energie und fühlen sich erst nicht gut an. Dieses ist vergleichbar mit dem Abgewöhnen einer Angewohnheit oder z. B. mit dem Angewöhnen einer sportlichen Tätigkeit. Es ist schwer! Sehr schnell kommt die Frage auf, was denn die Alternative zu dem jetzigen Tun und Handeln sei. Da es auf diese Frage oft keine schnelle Antwort gibt und die Zeit, Opportunitäten zu prüfen und zu bewerten fehlt, wird der gesamte Veränderungsprozess nicht fortgesetzt und das Hamsterrad läuft weiter. Wenn die Rahmenbedingungen und alltägliche Situationen nachhaltig belastend sind und keine Verbesserung erkennbar ist, sollten sich die handelnden Personen im ersten Schritt erlauben, über alle Alternativen nachzudenken. Hier ist »Out of the box«-Denken das entsprechende Motto. Es braucht die Geduld, dass die perfekte gute Lösung nicht immer auf dem Silbertablett serviert wird. Und es braucht ebenfalls die Geduld, dass es sich um einen Veränderungsprozess handelt, der Zeit beansprucht.
Zu diesem Prozess gehört neben der Analyse der Ist-Situation durch Controlling und externe Beratung auch die Akzeptanz, dass es kaum möglich ist, die Rahmenbedingungen und andere Personen zu ändern. Es ist für Sie als Unternehmer nur möglich, das eigene Handeln zu reflektieren und anzupassen, sowie den eigenen Umgang mit der Situation zu verändern.
Neben der betriebswirtschaftlichen Analyse braucht es eine intensive Betrachtung von Fragen zu den persönlichen Umständen. Dazu gehören u. a. die oben angesprochenen Bedürfnisse der Unternehmer, aber auch deren Partner. Dazu gehören Fragen nach den individuellen Sorgen und Ängsten genauso wie Fragen nach Zufriedenheit und die individuelle Definition von Erfolg. Immer noch sind unter Landwirten Aussagen zu hören wie: »Ich kann doch nicht aufgeben, es muss doch wieder besser werden.«
Aus der Praxis
Vielfach erleben wir auf den Betrieben eine Situation wie diese: Ein junger Hofnachfolger absolviert eine landwirtschaftliche Ausbildung, ein Studium und ein Volontariat auf einem anderen Betrieb, um danach auf den elterlichen Hof zurückzukehren. Mit geschärftem Blick wird ihm schnell klar, dass nicht alle Faktorkosten – Arbeit, Boden, Kapital – ausreichend entlohnt werden, und es stellt sich für ihn die Frage: Wie mache ich weiter? Daraufhin findet eine Prüfung von verschiedenen Wachstumsschritten oder neuen Geschäftsfeldern statt. Eine Erweiterung über die Fläche kommt dabei ebenso wenig infrage, wie die Investition in den tierischen Sektor. Doch nach intensiven Überlegungen wird dem Hofnachfolger klar: Das bin nicht ich. Er orientiert sich um und bringt sein Know-how im Agribusiness ein, entscheidet sich für die Bewirtschaftung der Eigentumsflächen und stößt teures Pachtland ab. In diesem Prozess wird ihm deutlich, dass er den Hof vor allem zum Gefallen seiner Eltern aktiv weiterführen wollte.
Der hier beispielhaft dargestellte Betrieb wird heute erfolgreich im Nebenerwerb geführt und der Betriebsnachfolger findet einen guten Mittelweg zwischen der Erhaltung seines elterlichen Betriebes und einem Beruf, der seine persönlichen Stärken und Ressourcen bedient.
Unternehmertum hat sehr viel mit Verantwortung dem Betrieb, sich selbst aber auch den Mitmenschen und der Familie gegenüber zu tun. Unternehmertum hat auch damit zu tun, sich dem Wettbewerb zu stellen und das Unternehmen wie sich selbst weiterzuentwickeln. Unternehmertum hat mit Durchhalten aber auch mit Loslassen zu tun. Unternehmertum drückt sich definitiv darin aus, dass Opportunitäten und Alternativen betrachtet werden. Entscheidend ist, dass Unternehmer im landwirtschaftlichen Umfeld ihre Opportunitäten analysieren und prüfen. Und gerade aktuell gibt es zum Teil hohe Opportunitätskosten. Dazu gehört auch, seine eigenen persönlichen Ressourcen und Stärken zu analysieren, denn in der Regel verfügen Menschen über eine Vielzahl von bisher unbekannten Stärken. Weiterhin ist entscheidend, dass es eine innere Haltung braucht, um Veränderungen anzugehen und umzusetzen. Denn wer seinen Betrieb in eine neue strategische Richtung entwickelt, ist nicht gescheitert oder hat versagt, sondern hat eine – hoffentlich – wohlüberlegte unternehmerische Entscheidung getroffen. Diese Entscheidung sollte dazu führen, dass es eine Verbesserung auf der betrieblichen als auch auf der persönlichen Ebene gibt.