
Bürokratie. Schranken, die Wohlstand vernichten
Aktenberge ade? Von wegen. Auch Landwirte sehen sich einem Wust an bürokratischem Aufwand gegenüber, der sich zum allergrößten Hemmnis für die Betriebsentwicklung auswächst. Arnold Krämer zeigt die Folgen der Regulierungswut und sucht Auswege aus dem Dilemma.
Auch in landwirtschaftlichen Betrieben wird, der rechtlichen Not gehorchend, immer mehr »Fake Work« geleistet. Arbeit, die keine Probleme löst und keinen Sinn ergibt. Es geht um Bürokratie, und hier vor allem um »die böse Schwester einer guten Verwaltung«, die teilweise zum Selbstzweck verkommt. Wörtlich übersetzt heißt Bürokratie »Herrschaft der Verwaltung« und ist nicht nur Bedrohung durch den Staat, sondern in Großbetrieben der Wirtschaft auch hausgemachtes Übel.
Die gute Seite der Verwaltung ... In den landwirtschaftlichen Familienbetrieben ist der Eigenanteil bürokratischer Belastung vergleichsweise gering. Das meiste spielt sich in den Köpfen der Familienmitglieder und in der direkten Kommunikation untereinander, mit dem einen oder anderen Mitarbeiter sowie den Geschäftspartnern ab. Beim internen Controlling unterhalb der Buchführungsebene helfen Managementprogramme wie z. B. Sauenplaner, Mastplaner, Kuhplaner und Ackerschlagkartei. Damit wird Effizienz gesteigert, werden Leistungen optimiert und Kosten gesenkt. Ohne diese Instrumente geht heute eigentlich nichts mehr. Sie stehen für gute Verwaltung, für gutes Management, sorgen für bessere Arbeit und dafür, dass die Dinge funktionieren.
... und ihre »böse Schwester«. Seit Jahrzehnten, gefühlt exponentiell steigend, nimmt jedoch die Bürokratie immer mehr Raum ein, und zwar so stark und umfangreich, dass sie mittlerweile als externe Bedrohung betrachtet wird, sogar aus dem staatlichen Verwaltungsapparat selbst heraus. Bei Wikipedia heißt es: »Verursacht wird die Bürokratiebelastung durch rund 90 000 Vor-
schriften, die deutsche Unternehmer einzuhalten und zu beachten haben. Derzeit existieren alleine auf Bundesebene gut 1 800 Einzelgesetze mit mehr als 55 000 Einzelnormen; darüber hinaus umfassen 2 728 Rechtsverordnungen rund 40 000 Einzelvorschriften«. Vermutlich ist in diesen Zahlen die landwirtschaftliche Urproduktion noch nicht einmal zur Gänze enthalten.
Aber nicht nur der Staat ist Treiber und Auslöser von Bürokratie
Oft ist es auch die Wirtschaft selbst, sind es die Kunden, die aus Marketinggründen zur Herstellung von Produkten Zertifikate und Dokumentationen über die Herkunft von Vorleistungserzeugnissen verlangen. Und dann kommt der Staat, der aus freiwilligen Aktivitäten verbindliche Vorschriften für alle macht, weil ihm Selbstkontrolle und Selbststeuerung der Wirtschaft zu wenig sind. Dazu drei Beispiele:
- QS-Prüfsystem für Lebensmittelsicherheit. Um auf die wachsende Kritik an der konventionellen Tierhaltung zu reagieren, hat man im Zusammenhang mit der BSE-Krise ab 2001 mit QS (Qualität und Sicherheit) ein Eigenkontrollsystem der Lebensmittelwirtschaft inkl. der Landwirtschaft eingerichtet. Das hat den Staat aber nicht davon abgehalten, ordnungsrechtlich weitere und höhere Anforderungen in der Produktionstechnik und der Dokumentation zu formulieren.
- Das Gleiche gilt für die Initiative Tierwohl (ITW), die mit ähnlicher Zielsetzung dem Staat jetzt nicht mehr genügt. Mit dem seit August 2023 geltenden Tierhaltungskennzeichnungsgesetz wird in 43 Paragraphen und 11 Anlagen vorgeschrieben, wie ein Nachweis über die Haltungsform des »Agrarrohstoffs« Mastschwein auszusehen hat, der zu Schweinefleischprodukten verarbeitet wird.
- Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz (LkSG). Aus der Selbstverpflichtung, die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte zu beachten, wurden für alle Unternehmen mit mehr als 1 000 Mitarbeitern (gültig ab 2024, ab 3 000 Mitarbeiter bereits 2023) verbindliche Dokumentationspflichten. Damit soll sichergestellt werden, dass in der Wertschöpfungskette Menschenrechte und Umweltstandards beachtet werden. Noch engere Grenzen sind möglich, wenn die geplante EU-Richtlinie zu Lieferketten in nationales Recht umgesetzt werden muss. Dann wären z. B. auch Unternehmen der Lebensmittelwirtschaft mit mehr als 250 Mitarbeitern betroffen – und damit selbstverständlich auch landwirtschaftliche Rohstoffproduzenten egal welcher Größenordnung.
Wenn jetzt, privatwirtschaftlich initiiert, Nachhaltigkeitsnachweise zunächst angeboten, dann vom Handel eingefordert und letztlich vom Staat (vermutlich) verbindlich für alle vorgeschrieben werden, ist das nur ein weiterer Schritt hin zur Überregulierung und Überbürokratisierung des nationalen Agrarsektors. Insofern ist es unbedingt notwendig, sich seitens des landwirtschaftlichen Berufsstandes mit dem Thema Bürokratie zu beschäftigen, wo nötig auch Widerstand zu entwickeln, und nicht jedes Stöckchen zu überspringen, das man den Landwirten mit dem gleichzeitigen und beschwichtigenden Hinweis auf die Möglichkeiten der Digitalisierung hinhält.
Bürokratieentlastungsgesetz. Die Bundesregierung hat auf der Kabinettsklausur in Meseberg Ende August die Eckpunkte für ein Bürokratieentlastungsgesetz (BEG IV) beschlossen. Zu dessen Vorbereitung wurden 71 Verbände gebeten, jeweils maximal zehn konkrete Vorschläge zu unterbreiten, wie Regelungen vereinfacht werden könnten. Die Vorschläge des Deutschen Bauernverbandes (DBV) thematisieren dabei ausschließlich Spezialprobleme rund um Biogasanlagen. Nicht ein einziges Mal ist dabei das BMEL adressiert. Die Wünsche bzw. Vorschläge an das BMEL stammen dagegen u. a. von der Bundestierärztekammer, die Meldepflichten nach Tierarzneimittelgesetz betreffend. Auch wenn in der Kürze der verfügbaren zwei Monate vielen Verbänden keine umfassende Stellungnahme möglich war, wird hier doch deutlich, dass der DBV sich offensichtlich bisher nicht systematisch mit dem Thema Bürokratiebelastung im Agrarsektor beschäftigt hat.
Der landwirtschaftliche Berufsstand könnte trotzdem von einem BEG IV profitieren, wenn der Vorschlag des Deutschen Steuerberaterverbandes, die Buchführungspflichtgrenzen nach § 41 Abgabenordnung von 600 000 € auf 1 Mio. €, die Gewinngrenze von 60 000 € auf 100 000 € und gleichzeitig auch die Umsatzsteuerpflichtgrenze nach § 20 Umsatzsteuergesetz ebenfalls auf 1 Mio. € anzuheben, politische Zustimmung findet. Immerhin hat es dieser Vorschlag an die 3. Stelle der Prioritätenliste geschafft. Bislang handelt es sich bei den Plänen nur um Eckpunkte, ein konkreter Gesetzentwurf wird voraussichtlich im Dezember verabschiedet. Man darf gespannt sein.
Die zunehmende Vorschriftenflut mit Dokumentations- und Meldepflichten kostet den Staat eher kein oder wenig Geld. Das wird im Vorfeld von Gesetzgebungsverfahren vom Statistischen Bundesamt ja auch regelmäßig untermauert. Die Kosten entstehen in der Wertschöpfungskette und werden dort gnadenlos an den Landwirt als »Restgeldempfänger« durchgereicht. Dieser muss in den Großbetrieben immer häufiger extra Personal bereithalten und in den Familienbetrieben bestimmte Aufgaben an externe Dienstleister auslagern. Wer das nicht macht, verliert immer mehr Zeit für die eigentliche Arbeit, bindet geistige und körperliche Energie, was einhergeht mit Verlust an Kreativität, an Ideen zur ständigen Verbesserung der Produktionsprozesse – und er wird natürlich angreifbar.
Besonders ärgerlich ist Doppelarbeit, wenn privatrechtliche und staatliche Systeme nicht oder nicht vollständig aufeinander abgestimmt sind. Selbst rein staatliche Systeme sind nicht kongruent, weil es unterschiedliche Gesetzesgrundlagen und Zielsetzungen gibt. Als Beispiel seien hier die Meldepflichten in HI-Tier genannt, die einerseits der Tierseuchenbekämpfung und -vorsorge nach EU-Recht dienen und andererseits der Minimierung des Antibiotikaeinsatzes in der Tierhaltung nach deutschem Tierarzneimittelgesetz.
Abgesehen von den unmittelbaren Folgen für den Landwirt, sind weitere erhebliche Konsequenzen der Überbürokratisierung festzustellen. Je mehr von »oben« vorgeschrieben und verlangt wird, umso problematischer ist und wird die Umsetzung und Beachtung der betreffenden Vorschriften. Eine gleichmäßige und damit rechtsstaatliche Verwaltung »unten« kann quantitativ und qualitativ immer weniger sichergestellt werden. Immer mehr Lügen und Durchwurschteln vermitteln dem Staat (»ganz oben«) allerdings den Eindruck, alles im Griff zu haben.
Die Ursachen ausufernder Regelwerke
- Wer der Bürokratie an die Wurzel gehen will, muss vor allem die EU-Ebene ins Visier nehmen. Der zunehmende Bürokratiedruck auch für die Landwirtschaft konkretisiert sich immer auf den untersten Ebenen der Länder, Landkreise und Kommunen – je nach Zuständigkeit. Ausgelöst wird er aber meist »ganz oben« durch internationale Verträge wie z. B. das Pariser Klimaabkommen oder das 1992 in Rio de Janeiro vereinbarte Abkommen zum Schutz der Biodiversität,die immer weitreichendere EU-Gesetz- und -Normengebung. Diese hat nicht selten schon unmittelbare Rechtswirkung oder wird, oft noch verschärfend oder erweiternd, in nationales Recht überführt. Manches, was gesetzgeberisch verschleppt wird, wie z. B. die Beachtung der EU-Wasserrahmenrichtlinie, trifft die Landwirte dann mit verschärfter bürokratischer Wucht (siehe nationale Düngegesetzgebung ab 2017).
- Die Regulierungsflut hat sehr viel mit dem Selbstverständnis heutiger Politiker zu tun. Wesentliche Grundmotive ihres politischen Handelns sind, abgesehen vom verständlichen Wunsch wiedergewählt zu werden, zu finden im Streben nach immer mehr Sicherheit, wenn z. B. zur Tierseuchenvorsorge Handelsbeziehungen in HI-Tier (Zu- und Abgänge) in weniger als sieben Tagen gemeldet werden müssen, (Einzelfall-)Gerechtigkeit, wenn z. B. auch kleinere Familienbetriebe der Regelbesteuerung bei der Umsatzsteuer unterworfen werden, Berücksichtigung moralischer Kriterien, wie das z. B. beim Lieferkettengesetz oder im Agrarbereich bei der Gesetzgebung zum Tierwohl der Fall ist.
- Ein klarer marktwirtschaftlicher Kompass fehlt mittlerweile in allen Parteien. Es dominiert ein Politikertyp, der bestrebt ist, den Staat fürsorglich für seine Bürger zu organisieren. Damit produziert er eine Gesellschaft, in der Eigenverantwortung immer kleiner geschrieben und (auch landwirtschaftliches) Unternehmertum mehr und mehr erschwert wird. Politik- und Staatsverdrossenheit nehmen zu. Für den schon des Öfteren geforderten Ruck, der durch unser Land gehen muss, benötigt man deshalb neben einer sich selbst beschränkenden bzw. teilweise auch revidierenden Gesetzgebung vor allem Politiker mit einem anderen Selbstverständnis.
Fazit
Gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma bzw. von dem bisherigen Weg, der bis zur systematischen Erschöpfung aller Wirtschaftsakteure scheinbar immer weiter beschritten wird? Linderung der bürokratischen Schmerzen ist grundsätzlich möglich über Digitalisierung. Aber dazu braucht man einheitliche Ziele, einheitliche Datenformate und offene Schnittstellen. Nur dadurch sind eine einheitliche Sprache und der Zugang zu neuen Technologien möglich. Die Erfahrung lehrt allerdings, dass Digitalisierung maßlos macht. In der Vergangenheit wurden mit dem Hinweis, was durch Digitalisierung alles möglich und einfacher würde, immer neue Anforderungen gestellt. Das Streben nach Exaktheit und Genauigkeit auch in einem Sektor, der durch hohe biologische Variabilität gekennzeichnet ist und der in sehr unterschiedlichen Naturräumen wirtschaftet, kannte bisher scheinbar keine Grenzen. Der Ansatz zur Bürokratieentlastung muss weiter und tiefer gehen.