
Eutergesundheit. Trockenstellen mit KI
Antibiotisch trockenstellen oder nicht? Um diese Entscheidung zu treffen, müssen Sie viele Punkte beachten. Eine Softwarelösung hilft dabei und vereinfacht die Kontrolle über den Gesundheitsstatus der Herde. Anna Stoll und Rainer Martin stellen sie vor.
Stellen Sie sich vor, alle relevanten Eutergesundheitsdaten Ihrer Kühe werden zentral in einer Plattform gebündelt, für Sie übersichtlich aufbereitet, ausgewertet und Sie bekommen tierindividuelle Empfehlungen. Klingt traumhaft? Kann aber nun Realität werden.
Selektives Trockenstellen
Ein Großteil der verabreichten Antibiotika in der Milchviehhaltung ist auf die Eutergesundheit zurückzuführen und hierbei spielen antibiotische Trockensteller eine entscheidende Rolle. Ein wichtiger Baustein, um den Einsatz von Antibiotika zu reduzieren, ist das selektive Trockenstellen. Hierbei erhalten nur jene Kühe ein antibiotisches Trockenstellpräparat, die nachweislich von dieser Behandlung während der Trockenperiode profitieren können. Dass dies möglich ist, ohne die Herdeneutergesundheit negativ zu beeinflussen, ist nicht neu und durch zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten belegt.
Im Vergleich zum generellen antibiotischen Trockenstellen erfordert das selektive mehr Planung und Entscheidung auf Grundlage unterschiedlicher Daten. Das Zusammenführen und systematische Auswerten verschiedener Eutergesundheitswerte ist somit deutlich arbeitsintensiver und kann daher abschrecken.
Eine Applikation zu schaffen, die die Arbeit beim selektiven Trockenstellen erleichtert, war die Vision des Projektes IQexpert. Der zentrale Punkt war, relevante Daten zur Eutergesundheit effektiv zusammenzuführen und evidenzbasierte Empfehlungen zur Trockenstellbehandlung bereitzustellen – und das bei minimalem Arbeitsaufwand für die Anwender, Betriebsleiter und Hoftierärzte. Gleichzeitig sollte die Herdeneutergesundheit erhalten und der Einsatz antibiotischer Trockenstellpräparate reduziert werden.
Digital im Stall unterwegs
Serie. Immer mehr innovative digitale Lösungen für eine verbesserte Tiergesundheit und ein höheres Tierwohl kommen auf den Markt. In lockerer Reihenfolge werden wir in den kommenden Ausgaben der DLG-Mitteilungen einige Forschungsprojekte und ihren Nutzen für die Praxis vorstellen. Überwiegend sind sie Verbundpartner im Netzwerk Digi Tier und werden durch das BMEL gefördert.
Auf dem Weg in die Milchviehbetriebe
IQexpert ist ein vom Bundesministeriums für Ernährung und Landwirtschaft gefördertes Projekt zur Nutzung innovativer Datenanalytik und Künstlicher Intelligenz (KI) für das Eutergesundheitsmanagement. Hierfür werden Forschungsergebnisse zur Tankmilchanalytik und der bildbasierten Tieridentifikation eingebunden.
Die digitale Anwendung, die auf Grundlage der Ergebnisse dieses Forschungsprojekts entwickelt wurde, floss in das Herdenmanagementprogramm der Landeskontrollverbände (LKV) des Rinderdatenverbunds ein und wurde in Bayern im Herbst 2024 veröffentlicht. Die LKVs weiterer Bundesländer haben dies ebenfalls angekündigt.
Dabei gilt: Die Qualität der Empfehlungen hängt entscheidend von der zugrunde liegenden Datenbasis ab. Es ist daher unerlässlich, relevante Daten wie Mastitisereignisse oder Ergebnisse von Schalmtests sorgfältig zu erfassen. Um eine Auswertung der Trockenstehperiode zu ermöglichen, sollte zudem die hierfür verwendete Methode dokumentiert werden.
Der Entscheidungsbaum
Zunächst wurde hierzu ein Entscheidungsbaum entwickelt (Grafik). Erstmals wurden zwei verschiedene Ansätze miteinander kombiniert. Bisher wurden die Empfehlungen entweder allein aufgrund von Milchprobenbefunden (kultureller Ansatz) oder aufgrund von Eutergesundheitsdaten, wie z. B. dem Zellzahlverlauf oder der Mastitishistorie (algorithmischer Ansatz) getroffen. In dem nun entwickelten Verfahren werden abhängig von der Herdeneutergesundheit verschiedene Kriterien auf Einzeltierebene miteinander kombiniert (z. B. Zellzahlverlauf der letzten drei Messungen vor dem Trockenstellen, Mastitishistorie und Schalmtestergebnis direkt vor dem Trockenstellen). Reichen die Daten nicht aus, um ein Tier als eindeutig »eutergesund« oder »euterkrank« zu klassifizieren, werden zusätzlich Befunde von mikrobiologisch untersuchten Viertelgemelksproben relevant. Am Ende soll der Anwender eine klare, tierindividuelle Handlungsempfehlung für das selektive Trockenstellen erhalten. Sie soll eindeutig festlegen: Trockenstellen mit oder ohne antibiotisches Präparat.
Trotz der verschiedenen Kriterien wurde innerhalb des Projekts bewusst auf ein selbstlernendes System verzichtet. Die Trockenstellempfehlungen bleiben jederzeit nachvollziehbar, da klar ersichtlich ist, auf welchen Daten und Kriterien sie basieren. Dies ist insbesondere im Hinblick auf die Begründung des Antibiotikaeinsatzes entscheidend. Dank des modularen Aufbaus kann das System jedoch flexibel erweitert und um zusätzliche Kriterien ergänzt werden.
Ergebnisse der Testbetriebe
Das entwickelte System wurde zwei Jahre lang auf 19 Milchviehbetrieben in Süddeutschland unter Praxisbedingungen getestet. Dabei war die Haltung regional typisch mit durchschnittlich 79 Kühen (Minimum: 45, Median: 72, Maximum: 142), die in Liegeboxenlaufställen standen. Im wöchentlichen Rhythmus wurden die Eutergesundheitsdaten aktualisiert.
Dabei erhielten die Betriebe und Hoftierärzte eine angepasste Handlungsempfehlung, in der alle Tiere aufgeführt waren, die voraussichtlich innerhalb der nächsten vier Wochen trockengestellt werden sollten. Die Empfehlung wurde wöchentlich mit den aktualisierten Daten bis hin zur finalen Empfehlung (Trockenstellen mit oder ohne antibiotisches Trockenstellpräparat) konkretisiert. Die letztendliche Entscheidung über das Trockenstellverfahren trafen die Betriebsleiter in Absprache mit den zuständigen Hoftierärzten.
Während der Testphase erhielten 1 369 Tiere eine Empfehlung zum selektiven Trockenstellen. Insgesamt wurde in fast 50 % der Fälle die Empfehlung zum Trockenstellen ohne antibiotisches Trockenstellpräparat gegeben.
Um den Einfluss der Herdeneutergesundheit zu analysieren, wurden die Projektbetriebe in zwei Gruppen unterteilt. Gruppe A umfasste 12 Betriebe, die vor Beginn des Projekts eine stabile Herdeneutergesundheit aufwiesen. Die übrigen sieben Betriebe wurden in Gruppe B zusammengefasst. Wie erwartet, wurden Kühe aus Gruppe A häufiger als »definiert eutergesund« eingestuft (n = 517, 58 %) und erhielten entsprechend häufiger die Empfehlung, ohne Langzeitantibiotika trockengestellt zu werden, verglichen mit Kühen aus Gruppe B (n = 166, 34,7 %).
Gleichzeitig zeigte sich, dass Betriebsleiter aus Gruppe B häufiger den vermeintlich sicheren Weg wählten: 39,2 % der als eutergesund eingestuften Tiere (n = 65) wurden dennoch mit einem antibiotischen Trockenstellpräparat behandelt. Im Vergleich dazu lag dieser Anteil in Gruppe A bei 22,8 % (n = 118).
Bei 312 Tieren (22,8 %) konnte aufgrund der vorhandenen Eutergesundheitsdaten keine eindeutige Klassifizierung in eutergesund oder euterkrank getroffen werden. Daher wurde bei ihnen als zusätzliches Kriterium eine Viertelanfangsgemelksprobe mikrobiologisch untersucht. Der Arbeitsaufwand zur Entnahme von Viertelanfangsgemelksproben ließ sich deutlich reduzieren. Zeitgleich wurde durch die regelmäßige Erregerbestimmung der Leitkeim der Herde kontinuierlich evaluiert. Diese Information ist wertvoll, um die Erregerübertragung zu minimieren und so die Herdeneutergesundheit auch während der Laktation zu stabilisieren. Im Median starteten die Kühe, die nach Empfehlung des Entscheidungsbaums trockengestellt wurden, eutergesund mit unter 100 000 Zellen/ml Milch in die nächste Laktation (Median: 31 500 – 63 000 Zellen/ml). Die Zellzahlen nach der Kalbung waren bei Kühen in Betrieben der Gruppe A signifikant niedriger (Gruppe A im Schnitt 41 000 Zellen/ml, Gruppe B 57 000 Zellen/ml, p-Wert < 0,001). Dies war unabhängig von der angewandten Trockenstellmethode.
Die Effizienz der Trockenperiode war unter Anwendung des Entscheidungsbaums in beiden Betriebsgruppen vergleichbar (Übersicht). Hierfür wurde die letzte Zellzahlmessung vor dem Trockenstellen mit der ersten nach der Kalbung verglichen. Insbesondere der Anteil an gesund gebliebenen sowie neuinfizierten Tieren zeigte ähnliche Werte in beiden Gruppen. Dies deutet darauf hin, dass der Entscheidungsbaum unabhängig von der Herdeneutergesundheit eines Betriebs zuverlässig eingesetzt werden kann.