
Klimaneutrale Milch. Ein steiniger Weg
Aktuell ist es kaum möglich, klimaneutrale Milch zu produzieren. Trotzdem kann jeder Milchviehbetrieb einen Beitrag leisten, klimafreundlicher zu werden. Anna Raschel, Axel Don und Birthe Lassen vergleichen die verschiedenen Maßnahmen.
Klimafreundlich, klimaneutral oder sogar klimapositiv. Sicher haben auch Sie schon einmal eine Lebensmittelverpackung mit einem dieser Begriffe im Einkaufskorb gehabt. Und auch wenn sich der Verbraucherschutz inzwischen eingeschaltet hat, um mögliche Verbrauchertäuschungen zu verhindern, ist Klimaschutz als Verkaufsargument wichtiger denn je.
Klimaziele. Auch die Unternehmen der Milchwirtschaft haben sich zum Teil eigene ehrgeizige Klimaziele gesetzt. Einige, wie beispielsweise Nestlé oder Arla, möchten bis 2050 klimaneutrale Milch verkaufen. Da der Großteil der Treibhausgasemissionen (THG-Emissionen) eines
Milchproduktes auf dem landwirtschaftlichen Betrieb entsteht, betrifft dieses Ziel vor allem die Milchproduktion auf den Höfen. Doch gibt es eine klimaneutrale Milch überhaupt? Wir spielen ein Szenario durch, das so oder ähnlich auf einem Milchviehbetrieb ablaufen könnte.
Klimaschutz ist auch auf dem landwirtschaftlichen Betrieb der Familie Maier ein großes Thema. Vater Georg und Tochter Susanne haben sich Zeit genommen, um den CO2-Fußabdruck ihrer Milch zu berechnen. Ihre Molkerei zahlt einen Bonus dafür. Während Susanne die letzten Angaben ins Onlinetool tippt, schlägt Georg die Ordner vor sich zu. »Die Fragen sind wirklich sehr genau«, sagt er. »Wenn ich alles so betrachte, was da gefragt wird, machen wir eigentlich schon viel. Wie z. B. die Futtermittelanalysen. Dadurch haben wir auch Kosten eingespart. Die Beraterin letztes Jahr mit ins Boot zu holen, hat sich wirklich gelohnt. Nur: Emissionsfreie Milch, wie soll das funktionieren? Keine Emissionen mehr auszustoßen, klingt für mich unmöglich.« Susanne denkt nach. »Ich glaube, der Rest geht nur noch über Kompensation.« Georg antwortet: »Vielleicht sollten wir uns auch noch weiter informieren.«
Tatsächlich gibt es in der Milchviehhaltung viele verschiedene und unterschiedlich wirksame Stellschrauben, um THG-Emissionen zu reduzieren. Die jeweils für den Betrieb passenden sind individuell auszuwählen. Dennoch verbleiben Emissionen, die nicht komplett vermieden werden können, wie z. B. Methan aus der Verdauung der Kühe. Um »klimaneutrale« Milchprodukte zu erhalten, müssten die nicht vermeidbaren Treibhausgase kompensiert werden. Wie funktioniert die Kompensation von Treibhausgasen? Bei der THG-Kompensation werden bereits entstandene Treibhausgase ausgeglichen, indem an anderer Stelle CO2 der Luft entzogen und z. B. als Humus oder in anderen außerlandwirtschaftlichen CO2-Speichern gespeichert wird. Allerdings ist es natürlich für das Klima besser, wenn die Emissionen erst gar nicht entstehen. Deshalb sollte ihre Vermeidung immer Vorrang haben.
Humus ist in terrestrischen Ökosystemen der größte Speicher für organischen Kohlenstoff. Damit Humus entstehen kann, muss der Boden mit Biomasse »gefüttert« werden, z. B. in Form von Ernterückständen. Humus befindet sich in einem ständigen Auf- und Abbau. Je nach Standort sind die Humusvorräte sehr unterschiedlich. Moorböden sind hier absolute Spitzenreiter. Sie speichern fünfmal mehr Kohlenstoff als Mineralböden. Betrachtet man die Mineralböden, so zeigt sich, dass Grünland 40 % mehr Kohlenstoff speichert als Ackerland (Grafik).
Humus als Kompensation
Welche Kriterien müssen erfüllt sein, um Humus im Boden als Kompensation anrechnen zu können?
Dauerhaftigkeit. Humus muss dauerhaft im Boden gespeichert werden, um seine volle Klimaschutzwirkung zu erzielen. Sobald Maßnahmen zum Humusaufbau beendet werden, geht auch der aufgebaute Humus wieder verloren. Die Maßnahmen müssten also theoretisch dauerhaft fortgesetzt werden. Zusätzlichkeit. Die Maßnahmen müssen zusätzlich zur üblichen (humusaufbauenden) Bewirtschaftung durchgeführt werden. Nur zusätzlich gebundener Kohlenstoff ist klimawirksam.
Keine Verlagerungseffekte. Maßnahmen auf einer Fläche dürfen nicht dazu führen, dass der Humusvorrat auf einer anderen Fläche abnimmt oder THG-Emissionen zusätzlich entstehen, ohne dass sie bei den Bilanzierungen berücksichtigt werden.
Die »4 per 1 000«-Initiative zeigt, welche Bedeutung dem Humusaufbau beigemessen wird. Angenommen, wir würden einen jährlichen Zuwachs von 0,4 % gespeichertem Kohlenstoff in allen Böden der Welt erreichen, könnten wir damit die weltweiten, durch den Menschen verursachten Emissionen weitgehend kompensieren. Obwohl dies eine sehr theoretischer Wert ist, soll er doch dem Thema Bodenkohlenstoff mehr Beachtung schenken. Deutschland gehört zu den ersten Ländern, die diese Initiative unterzeichnet haben.
Milchviehbetriebe besitzen in der Regel viel Grünland. Bedeutet das jetzt, dass jeder Milchviehbetrieb seine (verbleibenden) Emissionen aus der Milchviehhaltung mit dem Humus im Grünland kompensieren kann? Ganz so einfach ist es leider nicht, denn es müssen bestimmte Kriterien erfüllt sein, damit es sich tatsächlich um eine Kompensationsleistung handelt (siehe Kasten).
Zurück zum Beispielbetrieb Maier. Susanne hat inzwischen an einem Onlineseminar der Molkerei über Humusaufbau teilgenommen und berichtet Georg von ihren Erkenntnissen und ihren Möglichkeiten, die verbleibenden Emissionen zu kompensieren:
1Dauergrünland. Dauergrünland ist ein Kohlenstoffspeicher und keine automatische Senke für zusätzlichen Kohlenstoff. Ohne weitere Maßnahmen wird kein zusätzlicher Kohlenstoff im Boden gespeichert, sondern der Humusanteil bleibt bestenfalls stabil. Gutes Grünlandmanagement ist hierbei wichtig. Zusätzlichen Kohlenstoff im Grünland zu speichern, funktioniert eigentlich nur (Dauergrünlanderhalt vorausgesetzt) über eine höhere Düngung. Je mehr gedüngt wird, desto mehr Humus wird gebildet und desto mehr Kohlenstoff wird gespeichert. Aber zu viel Dünger hat natürlich an anderer Stelle negative Auswirkungen auf die Umwelt, kostet viel Geld und außerdem ist die Ausbringungsmenge gesetzlich begrenzt. Gleichzeitig entstehen durch den Einsatz von Mineraldünger Emissionen: in der Düngemittelproduktion und als Lachgas nach der Ausbringung. Dadurch werden die positiven Effekte der Kohlenstoffspeicherung komplett zunichtegemacht. Organischer Dünger ist in der Regel nur in begrenzten Mengen verfügbar. Mehr organischer Dünger auf einer Fläche führt automatisch zu weniger Dünger auf anderen Flächen (Verlagerungseffekt). Der zusätzliche Humusaufbau auf den mehr gedüngten Flächen hat zur Folge, dass auf den weniger gedüngten Flächen kein/weniger Humusaufbau stattfindet und somit kann er nicht als Kompensationsleistung angerechnet werden. Auch die Beweidung kann im Vergleich zu Mähwiesen einen kleinen Einfluss auf die Bodenkohlenstoffvorräte haben. In den meisten Feldversuchen ist dieser Effekt aber sehr klein oder nicht signifikant.
2 Pflanzen von Hecken. Hecken können deutlich mehr Kohlenstoff speichern als landwirtschaftlich genutzte Flächen. Im Vergleich zu Ackerland sind es 104 t mehr Kohlenstoff pro Hektar in der Biomasse und im Humus. Das meiste davon befindet sich in der Biomasse von Heckenwurzeln und Ästen. Im Vergleich zu Grünland wird gleich viel im Humus, aber 87 t mehr Kohlenstoff pro Hektar in der Biomasse gespeichert. Das ist die Gesamtmenge, die über einen bestimmten Zeitraum (z. B. 50 Jahre) gebunden wird. Diese Menge kann einmalig angewendet werden. Die Kohlenstoffspeicherung von Hecken ist kaum reversibel, da sie gesetzlich geschützte Landschaftsbiotope sind. Neben der Klimaschutzwirkung haben Hecken viele weitere positive Synergien, wie z. B. die Förderung der Biodiversität oder den Erosionsschutz.
3 Pflanzen von Bäumen auf Weiden. Die Pflanzung von neuen Bäumen, z. B. Streuobst auf einer Wiese, bindet CO2 in der Biomasse – ein kleiner Baum natürlich noch wenig und ein großer, alter Baum vergleichsweise sehr viel. Im Bodenkohlenstoff kommt es zu keinen Vorratsänderungen. Nach einer bestimmten Zeit werden Bäume gerodet oder gehen ein und werden durch neue ersetzt. Bei Streuobstbäumen ist von einem Zeitraum von 80 Jahren zwischen Pflanzung und Rodung auszugehen (Umtriebszeit). Als klimarelevante CO2-Bindung muss die mittlere Biomasse über die Umtriebszeit eingesetzt werden. Basierend auf Daten für Apfelund Birnenstreuobst speichert ein Baum in Wurzeln und oberirdischer Biomasse im Mittel 0,27 t Kohlenstoff oder rund 1 t CO2. Pro Baumpflanzung kann diese CO2-Senke einmal angerechnet werden.
4 Pflanzenkohle. Sie ist eine technische Maßnahme zur langfristigen Bindung von Kohlenstoff und entsteht durch die Verkohlung von Biomasse. Eine Tonne Pflanzenkohle bindet langfristig etwa 2,2 t CO2. Pflanzenkohle kann im landwirtschaftlichen Betrieb vielseitig eingesetzt werden, z. B. als Gülle-, Boden- oder Futterzusatz.

Zurück zu Familie Maier. »Das heißt, wir können die Emissionen nicht mit unserem Grünland kompensieren. Es kommt auch nicht infrage, dass wir mehr düngen. Aber vielleicht wären Hecken, Bäume oder die Pflanzenkohle etwas, um die Emissionen aus der Tierhaltung zu kompensieren. Die Maßnahmen haben womöglich auch noch andere positive Effekte«, meint Georg. Susanne schaut in ihre Unterlagen vom Onlineseminar. »Wir wissen, wie viel CO2 mit Hecken, Bäumen und Pflanzenkohle gespeichert werden kann. Und aus dem CO2-Rechner wissen wir, wie viel Emissionen wir pro kg Milch ausstoßen. Damit können wir ausrechnen, wie viele Maßnahmen wir brauchen, um die Emissionen der Milchproduktion unserer 100 Kühe auszugleichen.«
Ergebnis der Berechnungen. Enttäuscht sitzt Familie Maier vor dem Blatt Papier mit den Berechnungen (Übersicht). »Das ist wirklich nicht umsetzbar. In 20 Jahren 49 ha nur mit Hecken zu bepflanzen oder 18 900 Bäume zu pflanzen, das geht nicht. Dann bleibt von unserer Betriebsfläche nichts mehr übrig. Und Pflanzenkohle können wir uns bei den momentanen Preisen auch nicht leisten. Klimaneutrale Milch ist damit unmöglich«, sagt Georg. Nach einigen Wochen trifft Georg die Beraterin, die sie damals zur Einsparung von THG-Emissionen beraten hat. Sie unterhalten sich über die Fortschritte im Betrieb und er erzählt von den Berechnungen zur Kompensation der Emissionen. Die Beraterin ermutigt die beiden, das Thema nicht aufzugeben. »Als ich bei euch auf dem Hof war, habe ich euch einige Stellschrauben gezeigt, mit denen ihr Emissionen reduzieren könnt. Dies ist der effektivere Weg, um einen Beitrag zu mehr Klimafreundlichkeit zu leisten. Beispielsweise haben wir über das Thema Nutzungsdauer gesprochen. Die Milchkuh verursacht schon während der Aufzucht THG-Emissionen. Genauso wie in betriebswirtschaftlichen Kalkulationen die Aufzuchtkosten später auf die erzeugten kg Milch verteilt werden, geschieht dies auch mit den Emissionen. Daraus ergibt sich grundsätzlich folgender Zusammenhang: Je weniger Laktationen eine Kuh erreicht, desto schlechter ist die Klimabilanz je kg Milch. Viele Emissionen lassen sich auch im Bereich Güllelagerung und -ausbringung
vermeiden.«
Und sie ergänzt: »Positiv ist, dass die Maßnahmen häufig nicht nur positiv fürs Klima sind, sondern auch für euren Geldbeutel. Du merkst vielleicht: Vieles davon macht ihr schon heute. Weitere Stellschrauben, um Emissionen auf eurem Betrieb zu reduzieren, liefert zum Beispiel das QM-Nachhaltigkeitsmodul Milch.« Die Beraterin fügt hinzu: »Ein paar Hecken und Bäume zu pflanzen, schadet trotzdem nicht, es müssen ja nicht gleich 49 ha sein.« Ein Jahr später hat die Familie Maier auf einigen Seitenstreifen Hecken gepflanzt und auf der Weide hinter dem Stall stehen junge Bäumchen. Denn eines haben die Maiers im Laufe ihrer Recherchen gelernt. Es war gut, sich zunächst auf die Möglichkeiten zur Reduktion von Emissionen zu konzentrieren. Das Kohlenstoffsenkungspotential der Landwirtschaft wird oft überschätzt. Dennoch kann damit auch ein Beitrag zu mehr Klimaschutz geleistet werden. Außerdem sind Maßnahmen, die den Humusaufbau fördern, oder das Einbringen von Agrarholz mehr als Klimaschutz. So ist Humus der zentrale Indikator für Bodenfruchtbarkeit. Hecken und Bäume in der Agrarlandschaft sind für die Biodiversität und ein ausgeglicheneres Klima perfekt. Maßnahmen sollten daher nie nur unter dem Aspekt des Klimaschutzes betrachtet werden, sondern auch die weiteren positiven Effekte mit einbeziehen.