
EU-Osterweiterung. Zwanzig Jahre im Zeitraffer
Die EU-Osterweiterung war eine der wichtigsten geopolitischen Entscheidungen der Europäischen Union. Dabei gab es auch so manche Vorbehalte gegen die Aufnahme der ehemaligen Warschauer-Pakt-Staaten. Wie haben sich die neuen Länder und die EU seither entwickelt?
Ludwig van Beethoven hätte es vermutlich kaum fassen können: In allen 15 alten und den zehn neuen EU-Mitgliedsstaaten erklang in der Nacht zum 1. Mai 2004 die Europahymne. Es ist ein historischer Schritt: Mit dem Beitritt der baltischen Staaten und ehemaligen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen, außerdem Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, die frühere jugoslawische
Teilrepublik Slowenien sowie der beiden Mittelmeerstaaten Malta und Zypern entstand ein Wirtschaftsraum mit insgesamt 470 Mio. Einwohnern. Von den 75 Mio. neuen Unionsbürgern lebte etwa die Hälfte in Polen. Mit der Osterweiterung galt die Teilung Europas – rund 15 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs – als überwunden. 2007 folgten die beiden Beitrittskandidaten Rumänien und Bulgarien. Am 1. Juli 2013 trat Kroatien als 28. Mitgliedsstaat der Europäischen Union bei – und am 31. Januar 2020 hat das Vereinigte Königreich die EU verlassen.
Die Osterweiterung der EU ist ein historischer Erfolgsprozess – wirtschaftlich, politisch und in der Festigung der Bedeutung Europas als eine im Welthandel führende Region. Das würdigt auch die Weltbank, indem sie Europa als »Integrationsmaschine« bezeichnet. Noch nie in der Geschichte habe die grundlegende Transformation eines Wirtschaftssystems so schnell funktioniert, in diesem Fall von
der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft. Dabei gab es vor dem Beitritt der neuen Mitglieder durchaus Vorbehalte. Zu groß sei der wirtschaftliche Rückstand der Beitrittsländer zu den bisherigen Mitgliedsstaaten. Auch das Lohngefälle wurde immer wieder als Argument gegen die Erweiterungsrunde angeführt. Viele fürchteten, dass die Zuwanderung von Arbeitskräften aus den neuen Mitgliedsstaaten zu Niedriglöhnen und höherer Arbeitslosigkeit führen könnte. Die Debatte wurde besonders in Deutschland kontrovers geführt: Unmittelbar vor der Beitrittsrunde sprachen sich im Eurobarometer weniger als ein Drittel der Deutschen für die Erweiterung aus – in keinem anderen alten EUMitgliedsstaat lagen die Zustimmungsraten so niedrig.
Übergangsregeln
Der Preis für die große Erweiterungsrunde war eine Reihe von Übergangsregelungen. So erhielten die alten EU-Staaten das Recht, ihren Arbeitsmarkt bis zu sieben Jahre für die Bürger aus den Neumitgliedern zu schließen. Auch die Agrarsubventionen gab es erst nach Jahren in voller Höhe. Grund ist die beim EU-Gipfeltreffen von Kopenhagen im Dezember 2002 ausgehandelte Übergangsregelung für die landwirtschaftlichen Einkommensbeihilfen. So mussten sich die osteuropäischen Landwirte nach dem Beitritt zunächst mit 25 % dessen bescheiden, was die Berufskollegen in Frankreich und Deutschland erhielten. Die volle »Gleichbehandlung« zwischen West und Ost ist bei diesen Subventionen, die etwa zwei Drittel des Agrarhaushalts ausmachen, erst im Jahr 2013 erreicht. Auf der anderen Seite profitierten die Landwirte in den neuen Mitgliedsstaaten sofort nach dem Beitritt von den EU-Mechanismen zur Stützung der Agrarmärkte: Durch hohe Zölle, Exportsubventionen und staatliche Abnahmegarantien machten die Preise für manche Agrarprodukte, vor allem Milcherzeugnisse und Rindfleisch, einen Sprung nach oben. Ein Drittel mehr Getreide als bisher und jeweils ein Viertel mehr Milch und Fleisch produziert die EU nach der Erweiterung. Die Ackerfläche wuchs um 45 % und der Markt ist mit 470 Mio. Einwohnern einer der größten und aufnahmefähigsten.
Polen
Diese Erfolgsgeschichte war nicht vorhersehbar. Denn Polen galt damals als der am schlechtesten vorbereitete Kandidat unter den zehn Ländern, die 2004 der EU beitraten. Die von Brüssel im Vorfeld geforderten Reformen waren nur teilweise umgesetzt worden. Und es wimmelte von Korruptionsskandalen, in die wichtige Parteifunktionäre verwickelt waren.
Dass Polen überhaupt der EU beitreten durfte, hatte denn auch weniger wirtschaftliche als vor allem politische Gründe. Westliche Politiker wollten den größten der osteuropäischen Beitrittskandidaten nicht außen vor lassen. Ohne Polen habe die EU-Erweiterung keinen politischen Sinn, meinten viele. Dabei gab es in Polen durchaus große Ängste vor dem neuen Bündnis. Es bestand die Sorge, dass nach dem Beitritt westliche Investoren sämtliche Branchen der Wirtschaft dominieren, das Land »aufkaufen« und letztendlich in die Pleite führen. Angst hatten auch viele Landwirte, die im größten Beitrittsstaat die größte Rolle spielen: Fast 20 % der Beschäftigten
verdienen dort ihr Geld noch überwiegend in der Landwirtschaft. Sie bangten darum, ob ihre Produkte nach der Erweiterung konkurrenzfähig wären.
Keines der Schreckensszenarien wurde wahr. Laut einer Umfrage des polnischen staatlichen Instituts CBOS meinen heute über 60 % der Polen, dass der Beitritt in die EU von großem Vorteil für das Land war. Bei den Landwirten ist die Zufriedenheit am größten, schließlich haben sie von den Zuschüssen der EU auch am meisten profitiert. Drei Viertel von ihnen sprechen positiv über die EU.
Wirtschaftlich war der EU-Beitritt auf jeden Fall ein Erfolg: Die polnische Wirtschaft wuchs (bezogen auf das BIP) um 49 %. Die Arbeitslosigkeit, einst bei 20 %, hat sich halbiert. Nur wenige Jahre nach der EU-Erweiterung zeigte sich zudem, dass gut ausgebildete junge Polen auch im eigenen Land ein erfolgreiches Leben führen können.
Strukturwandel
Viele der polnischen Landwirte sind anfang der 2 000er Jahre noch immer Kleinbauern, die überwiegend für den eigenen Bedarf und nur an zweiter Stelle für den Markt produzieren. Eine Zukunft haben diese Betriebe nicht – ob mit oder ohne EU-Erweiterung. Es war absehbar, dass Hunderttausende von ihnen aufgeben und auf die Arbeitsmärkte drängen. Der Strukturwandel, der in Westeuropa die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe kontinuierlich hat schrumpfen lassen, stand in Polen, aber auch in den baltischen Republiken
und Slowenien noch ganz massiv bevor.
Die Landwirte in einigen anderen Beitrittsländern haben das Gesetz des »Wachsens oder Weichens« schon zu spüren bekommen. So liegt der Beschäftigungsanteil der Landwirtschaft in Tschechien, Ungarn oder der Slowakei zum Zeitpunkt des Beitritts nur noch bei 5 bis 6 %. Im Durchschnitt der alten Fünfzehnergemeinschaft sind es 4 %, in Deutschland 2,5 %. Das »Zusatzeinkommen« aus den EU-Beihilfen hat den Strukturwandel in Osteuropa ein wenig verzögert, aber sicherlich nicht aufhalten können. Gleichzeitig hat sich durch die EU-Mitgliedschaft der Wettbewerb auf den Märkten weiter verschärft. Mit Ausnahme Ungarns importierten sämtliche Bewerberländer schon damals mehr Nahrungsmittel aus der EU, als sie dorthin verkauften.
Sieben Staaten sind der Eurozone beigetreten

Den Euro gibt es seit über 20 Jahren, aber viele EU-Mitgliedsstaaten haben ihn immer noch nicht eingeführt. Dazu zählen Schweden, Polen, Tschechien, Rumänien, Ungarn und Bulgarien. Damit ist der Euro zurzeit Landeswährung in 19 Mitgliedsstaaten. Zu den wirtschaftlichen Voraussetzungen für einen Beitritt zum Euro gehören eine geringe Inflation sowie eine jährliche Neuverschuldung, die höchstens 3 % des BIP beträgt. Grundsätzlich haben sich alle EU-Staaten (mit Ausnahme Dänemarks) zum Beitritt zur Währungsunion verpflichtet – sobald sie die Konvergenzkriterien erfüllen. Allerdings gibt es gegenüber einer Euro-Einführung derzeit Vorbehalte in manchen mittel- und osteuropäischen Staaten. So wird Polen, der größte EU-Mitgliedsstaat, der noch eine nationale Währung verwendet, unter der derzeitigen Regierung voraussichtlich nicht der Eurozone beitreten.
EU-Prämien
Jahrelang haben die Regierungen der zehn Bewerberstaaten für die EU-Subventionen gekämpft und große Erwartungen geweckt. Monatelang hatte der Schacher um Subventionen, Flächenprämien und Milchquoten die Beitrittsverhandlungen beherrscht. Das Ergebnis hatte, wohl auch, weil die Forderungen so hoch gesteckt waren, viele Landwirte in Osteuropa enttäuscht. Sie fühlten sich als Landwirte zweiter Klasse, weil die Agrarsubventionen bei ihnen zunächst weniger üppig sprudeln sollten als in Westeuropa.
Mit Blick auf das aktuelle EU-Budget sind knapp 243 Mrd. € für Subventionen veranschlagt, rund 57 Mrd. € entfielen 2022 allein auf Agrarsubventionen (siehe Grafik). Die Mittel für die Gemeinsame Agrarpolitik (GAP) setzen sich aus den Pfeilern europäischer Garantiefonds für die Landwirtschaft und Europäischer Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums zusammen.
Der Westen zählt nach wie vor zu den Top-Agrarsubventionsempfängern. Deutschland erhielt 2022 rund 6,3 Mrd. € Zuschüsse für den landwirtschaftlichen Sektor, der Bund steuerte im entsprechenden Haushaltsjahr etwa 2 Mrd. € bei. Nur Frankreich und Spanien sind mit 9,5 respektive 6,9 Mrd. € mit noch höheren Finanzhilfen für die heimische Landwirtschaft bedacht wurden. Weiterhin auffällig: Die höchstplatzierten Länder weisen einen Agrarsubventionsanteil an den gesamten EU-Beihilfen von knapp 50 % auf. Frankreich liegt mit 56 % darüber, Deutschland mit 45 % darunter. Andere EU-Länder wie Polen, das ebenfalls rund 5 Mrd. € Agrarsubventionen
erhalten hat, werden primär in anderen Wirtschaftsbereichen bezuschusst.
Die aktuellen Probleme sind vor allem politischer Natur. In Ungarn und Polen regieren euroskeptische Parteien, die schrittweise
demokratische Prinzipien aushebeln. Das hat wiederholt zu Spannungen geführt und drückt sich derzeit auch in der Debatte um neue Sanktionsmechanismen für EU-Staaten aus, die mit rechtsstaatlichen Grundsätzen brechen.