Entscheidungen: Trittbrettfahren ist verführerisch
Die Grundidee unseres Wirtschaftssystems ist die Vorstellung, dass wir Menschen unsere Entscheidungen rational treffen. Sie ist ja nicht völlig falsch, wird es aber, sobald wir sie generalisieren. Christoph Thomas Schneider zeigt, dass wir Menschen keine berechenbaren Entscheidungsmaschinen sind und warum Trittbrettfahren ein Problem ist.
Den Traktor wenige Minuten vor dem Losfahren starten, weil es dann in der Kabine wärmer ist? Die Tür zum Stall kurz auflassen, weil es zu aufwendig ist, die Extrameter zu gehen? Die hohen Energiepreise sind allen bekannt, aber solche Kleinigkeiten machen doch keinen Unterschied. Oder vielleicht doch?
Eine uralte Frage. Wann wird aus einem Nichthaufen ein Haufen? Nicht, wenn einem ersten Gerstenkorn ein zweites hinzugefügt wird. Auch nicht, wenn ein Drittes hinzukommt. Irgendwann aber ist es soweit, ein Haufen besteht. Dennoch kann keiner eine exakte Zahl von Gerstenkörnern benennen. So viel vorneweg: Es gibt keine einfache Antwort. Dennoch ist die Frage von großer Bedeutung für Landwirte. Nur weil ein Passant einen Apfel pflückt, wird nicht die Ernte messbar geringer. Nur weil ein Mitarbeiter einen Verbrauchsartikel mitnimmt oder ein Gerät am Wochenende privat nutzt, wird die Einsatzdauer nicht messbar reduziert. Nur weil das Licht fünf Minuten
länger brennt, steigt die Stromrechnung nicht messbar an. Wenn sich alle Beteiligten so verhalten aber mit Sicherheit. Wo jedoch die Grenze liegt, wo aus dem Gerstenkorn ein Haufen wird, bleibt unklar. Was soll ein Landwirt Mitarbeitern sagen, die das Korn sehen, nicht aber den Haufen sehen (wollen)?
In größerem Maßstab stellt sich die Frage für die Gesellschaft. In welcher Welt wollen, in welcher Welt werden wir leben? Ein Haus im Landschaftsschutzgebiet verändert nicht dessen Charakter, noch dessen Schutzwürdigkeit. Ebenso wenig ein zweites oder drittes. Irgendwann aber wird aus dem Nichthaufen ein Haufen, das Gebiet ist nicht mehr schützenswert. Eine Fahrt mit dem Auto verändert nicht das Klima, Autofahren aber schon. Der Sachverhalt ist eindeutig: Keine Gesellschaft funktioniert, kein Betrieb ist erfolgreich, wenn eine gewisse Anzahl an Trittbrettfahrern überschritten wird.
Trittbrettfahren – Was heißt das? Im Jahr 2008 brach die Weltwirtschaft zusammen. Die Märkte und Banken kollabierten und unzählige Menschen verloren ihre Arbeitsplätze und Existenzgrundlagen. Und wer hatte all das verursacht? Viele Ökonomen schoben die Schuld auf die unzulängliche Regulierung der Finanzmärkte, also auf die Regierungen und Gesetzgeber, statt auf die Banken selbst. Aber das wäre ungefähr so, als würden wir die Polizei – und nicht die Einbrecher – für eine Einbruchsserie verantwortlich machen. Das führt zu einem gefährlichen Phänomen: dem sogenannten Trittbrettfahren. Der Begriff kommt von den Schwarzfahrern, die sich auf dem Trittbrett einer Straßenbahn mitnehmen lassen, ohne zu bezahlen. Konkret heißt das im eben beschriebenen Fall: Die Finanzmärkte profitieren schamlos vom Sozialstaat. Sie spekulieren bis zum Crash und wälzen die Verantwortung anschließend auf die Politik ab.
Auf dem Trittbrett lässt es sich gut mitfahren – und die eigene Entscheidung der anderer anpassen.
Letztlich wirkt sich diese ökonomische Trittbrettfahrermentalität auf uns alle aus. Warum können etwa Firmen wie Facebook gigantische Umsätze erzielen und dabei so gut wie keine Unternehmenssteuern zahlen? Weil wir es zulassen. Weil wir als Trittbrettfahrer mitmachen und glauben, unser Beitrag – oder Ausstieg – mache keinen Unterschied. Dasselbe gilt für den Umgang mit dem Klimawandel: Wir halten unseren individuellen Beitrag für so klein, dass wir letztlich gar nichts ändern. Es bleibt das angesprochene Problem bestehen: Es gibt keine klaren Grenzen, niemanden, der »Haufen« definieren kann, kein Raum- oder Gewichtsmaß, keinen Geldbetrag, der die eindeutige Lösung ist. Genaue Grenzen fördern sogar die Trittbrettfahrermentalität, weil diese erkennen, dass ein Haufen (noch) nicht gebildet, eine Grenze noch nicht erreicht bzw. durch ihr Handeln überschritten wird. So wird die Ansicht bestärkt, dass das eigene Trittbrettfahren für dritte ohne erkennbare bzw. sichtbare Folgen bleibt.
Lösungsansätze. In einer kleinen Gemeinschaft, in der Familie als soziale und wirtschaftliche Keimzelle, bliebt Trittbrettfahren
weder unbemerkt noch folgenlos. Sanktionen erfolgen unmittelbar, wenn der Einzelne mehr nimmt als ihm zusteht. Auch in der dörflichen Gemeinschaft funktioniert dieses System noch. Größere Gemeinschaften benötigen und implementieren dagegen Regeln, um Trittbrettfahren zu vermeiden. Menschliches Handeln erfolgt dabei selten eindeutig, rigoros. Ist ein Verhalten ein »Verstoß« oder nur eine »flexible Auslegung « einer Regel? Der Staat bildet über die Gesetzte den ethischen Mindeststandard ab, kann aber das Problem des »Haufens« nicht lösen. Zwar ist Diebstahl verboten, wegen der Entwendung eines einzelnen Apfels wird jedoch kaum ein Verfahren
eingeleitet.
Gibt es Kipppunkte? Die einzelne Aktion mag als Kleinigkeit, als Bagatelle wirken, das Gesamtbild zeigt die verheerenden Folgen auf. Eine andere Perspektive bietet das folgende Gedankenspiel. Im Rückgriff auf den Einwand gegen Trittbrettfahren lassen sich drei Fälle konstruieren:
- Wenn jeder trittbrettfährt, findet das gemeinsame Projekt nicht statt; es macht keinen Unterschied aus, wenn ich einen Beitrag leiste.
- Wenn niemand außer mir trittbrettfährt, findet das gemeinsame Projekt statt. Es macht also wieder keinen Unterschied aus, ob ich meinen Beitrag leiste. In beiden Fällen lohnt sich Trittbrettfahren.
- Einige Leute sind Trittbrettfahrer, andere nicht. Dann sollte ich nur Trittbrettfahren, wenn die anderen genug zum Projekt beitragen, dass dies auch ohne meinen Beitrag stattfinden kann.
Damit tritt die Frage, wie viel genug ist, ob es einen Grenz- oder Kipppunkt gibt und wie dieser erkannt wird in den Mittelpunkt. Wenn dieser unbekannt, ungewiss oder umstritten ist, ist dies eine Einladung zum Trittbrettfahren. Die Schwierigkeit ist, dass Kipppunkte fast ausschließlich erst in der Rückschau zu ermitteln sind, wann ein Staat oder ein Betrieb an diesem Punkt stand und ihn überschritt. Wann der Apfelbaum leer, das Feld abgeerntet oder die Betriebskosten zu hoch sind.
Auch wenn es keinen Kipppunkt gibt, soll der Einzelne nur einen Beitrag leisten, wenn die Situation noch knapp unterhalb des Grenzwertes liegt. Denken alle so, führt dies dazu, dass erst im letzten Moment ein Beitrag geleistet wird. Verkalkuliert sich nur eine Person, scheitert ein Projekt, alle verlieren. Dies führt zu einer riskanten Lebensweise, zu einer instabilen Gesellschaft, zu Betrieben, die permanent an der Schwelle zum Scheitern stehen. Meint der einzelne Trittbrettfahrer tatsächlich diesen Zeitpunkt zu erkennen, um dann sein Verhalten umzustellen?