Wie können wir mehr Lebensmittel retten?
Rund ein Drittel der produzierten Lebensmittel wird im Laufe der Wertschöpfungskette entsorgt. Welche Rolle spielt dabei die Primärproduktion? Und welche Ansätze gibt es zur Reduzierung von Ausschussware? Das hat Jonathan Sehl beispielhaft für verschiedene Gemüsekulturen in Deutschland untersucht.
Während die Weltbevölkerung bis 2050 auf voraussichtlich 10 Mrd. Menschen wachsen wird, ist für viele Menschen die Lebensmittelversorgung nicht gesichert. Experten gehen davon aus, dass im Jahr 2021 zwischen 702 und 828 Mio. Menschen an Hunger
litten. Neben externen Faktoren wie z. B. Klimaveränderungen sind auch die Ernährungssysteme wichtige Treiber der sich global verschlechternden Ernährungssituation. Gleichzeitig wird ungefähr ein Drittel aller produzierten Lebensmittel im Laufe der Wertschöpfungskette verschwendet. Welche Rolle dabei die Primärproduktion spielt und welche Möglichkeiten es zur Entschärfung des
Problems gibt, wurde im Rahmen einer Bachelorarbeit untersucht.
Worüber reden wir eigentlich? Diese Frage ist nicht ganz einfach zu beantworten, denn es gibt unterschiedliche Definitionen. Laut EU-Abfallrahmenrichtlinie werden Vorernteverluste beispielsweise nicht als Abfall definiert, da sie erst ab der Ernte als Lebensmittel gelten. Dies kritisiert beispielsweise die Nicht-Regierungs-Organisation WWF. Das Argument: Die Aussortierung der Ware u. a. auf dem Feld
resultiert aus den hohen Ansprüchen des Handels und der Verbraucher und wird dementsprechend vom Markt mitverursacht. Demnach sollten alle Ausschussmengen aus Vorernte, Ernte und nachgelagerten Prozessen berücksichtigt werden. Allerdings sind die genauen Ausschussgründe oft schwer zu definieren, da auch pflanzentechnische Maßnahmen zu Vorernteverlusten führen können.
Global wird die Lebensmittelverschwendung in der Primärerzeugung auf 1,2 Mrd. t pro Jahr geschätzt. Das wiederum macht 15,3 % der Gesamtmenge der Lebensmittelproduktion aus. Diese Zahl beinhaltet Abfälle, die in der gesamten Primärerzeugung nach der Ernte entstehen. Nicht mit einbezogen sind Lebensmittel, die der Handelsnorm oder den Ansprüchen des Marktes nicht entsprechen und
aus diesem Grund vor oder während der Ernte aussortiert werden. Bei Berücksichtigung dieser Mengen wird die Lebensmittelverschwendung in der Primärerzeugung von der FAO auf 20 bis 25 % geschätzt. Große Unterschiede gibt es zwischen verschiedenen Gemüsesorten. Der Thünen Report 71 umfasst die Lebensmittelabfälle gemäß der EU-Abfallrahmenrichtlinie in Deutschland aus dem Jahr 2015. Demnach verursachen Haushalte mit 52 % die meisten Abfälle, gefolgt von der Verarbeitung mit 18 %, der Außer-Haus-Verpflegung mit 14 % und dem Handel mit 4 % (Grafik 1). Die Landwirtschaft verursacht lediglich 12 % aller Lebensmittelabfälle, insgesamt über 1 Mio. t. Ist also alles gar nicht so schlimm?
Echte Daten fehlen. Wie bei den meisten Daten zur Lebensmittelverschwendung in der Primärproduktion stammen die Daten nicht aus Primärdaten, sondern aus Massenbilanzen oder Koeffizienten und Statistiken, die auf Grundlage der Literatur ermittelt werden. Die häufige Verwendung von sekundären Daten und der Mangel an direkten Zählungen und Messungen zeigt sich auch anhand weiterer
Studien. Das birgt eine große Unsicherheit hinsichtlich der Genauigkeit der Daten. Folglich sind neben einer einheitlichen Definition auch primäre Datenerhebungen dringend notwendig, um gezielter an dem Problem zu arbeiten.
Echte Erhebungen. Die hier vorgestellten Primärdaten zu Salatgurken, Tomaten, Süßkartoffeln und Möhren stammen aus mehrfach wiederholten Erhebungen der Ausschussmengen im Umkreis von Osnabrück auf zwei Biobetrieben. Grafik 2 gibt Auskunft über die Ausschussmengen pro kg gepackter A-Ware bei den vier Gemüsekulturen. Die Ausschussmenge ist lediglich die Menge an Ware, die nicht als sogenannte A-Ware vermarktet wird. Diese Menge ist aber nicht automatisch Verlust bzw. Abfall. Denn es sind weitere Verarbeitungs- oder Vertriebsmöglichkeiten denkbar. Der Grafik 2 ist zu entnehmen, dass bei den Freilandkulturen (Möhren und Süßkartoffeln) der Ausschuss wesentlich höher ausfällt als bei den beiden Gemüsearten aus geschütztem Anbau. Bei Süßkartoffeln kamen auf 1 kg A-Ware beispielsweise über 1,2 kg B-Ware. Ein Grund dafür ist die schonendere und kontrollierte Produktion bei Gewächshauskulturen. Während bei Freilandkulturen das Erntegut maschinell aus der Erde geholt wird, erntet man die Früchte im Gewächshaus händisch. So kann beispielsweise auf das Wachstumsstadium Rücksicht genommen werden. In der Grafik wird außerdem zwischen Salatgurke 1 (ohne Vorernteverlust) und 2 (mit Vorernteverlust) unterschieden, da durch pflanzenbauliche Maßnahmen beispielsweise krumme Gurken vor der Ernte entfernt wurden. Bei Tomaten gab es quasi keine Vorernteverluste.
»Abfälle« besser differenzieren. Nach Definition des World Resources Institutes (WRI) werden der Ausschuss der Möhren sowie ein großer Teil des Ausschusses der Süßkartoffeln nicht als Lebensmittelabfall bewertet, da sie entweder als Futtermittel dienen oder industriell weiterverarbeitet werden. Die Grafik 3 veranschaulicht die Lebensmittelabfallmengen der vier Kulturen im Verhältnis zur gesamten Erntemenge, dem gesamten Ausschuss sowie der verwerteten Ausschussmenge. Während der verhältnismäßig kleine Ausschuss von Gurken und Tomaten komplett in der Biogasanlage landete, wurden die Möhren als Viehfutter genutzt. Und die aussortierten Süßkartoffeln gingen zum Großteil an industrielle Hersteller. Auch wenn die Energieeffizienz bei Tomaten und Gurken in einer Biogasanlage eher bescheiden ist, gilt diese Verwertungsmöglichkeit für den Anbaubetrieb als einfachste Lösung.
Warum wird Ware verworfen? Neben der Primärdatenerhebung durch Messungen und Wiegungen erfolgten qualitative Befragungen mit Vertretern der Erzeugung und der Verarbeitung. So konnten einerseits die Gründe des Ausschusses in der Erzeugung beleuchtet und andererseits Maßnahmen evaluiert werden, um die Verschwendung zu reduzieren. Aus den Befragungen ging hervor, dass bereits einige
Akteure in der Lebensmittelbranche B-Ware vermarkten oder in der Verarbeitung nutzen. Dabei kann man zwischen Organisationen unterscheiden, deren Fokus auf der Beschaffung von B- und Überschussware liegt (z. B. Querfeld und Dörrwerk aus Berlin) und Organisationen, die nur bei Gelegenheit auf aussortiertes Gemüse zurückgreifen.
Viele Akteure bemängeln die schwierige und kostenaufwendige Beschaffung von B-Ware, die mit zusätzlichem Arbeitsaufwand verbunden ist. Ein geringerer Einkaufspreis bei B-Ware wird so durch die zusätzlich entstehenden Kosten nivelliert. Gleichzeitig fallen aber bei den Erzeugern oft große Mengen an B-Ware an, die keine Abnehmer finden. Aus den Befragungen mit Erzeugern geht hervor, dass viel Gemüse häufig spontan und konzentriert in einer kurzen Zeit anfällt. Für die Ware gäbe es kurzfristig meist keine Absatzwege.
Bestenfalls lässt sich die Ware beispielsweise an die Tafel spenden oder sie landet in der Biogasanlage. Eine Lösung, die sich auch wirtschaftlich lohnt, gibt es nur in Ausnahmefällen.
Wo lässt sich noch ansetzen? Durch Vermarktung, Verarbeitung, Lebensmittelspenden oder Verfütterung werden bereits vielseitige Maßnahmen bei den befragten Personen durchgeführt. Trotzdem muss noch sehr viel getan werden, damit zum einen Erzeuger die Möglichkeit haben, B-Ware zu vermarkten und zum anderen Käufer, die gerne B-Ware verwenden würden, den Zugang dazu haben. Einfachere Vermarktungswege und der Zugang zu B-Ware könnten sich letztlich auch positiv auf den Endpreis der A-Ware auswirken.
Zu beachten ist dabei, dass Landwirte bereits oft an der Belastungsgrenze arbeiten und wenig Zeit haben, sich zusätzlich um einen weiteren Vermarktungszweig zu kümmern. Wichtig ist natürlich auch die Stärkung der Akzeptanz der B-Ware beim Handel und bei Verbrauchern. Zusätzlich müssten Daten und Erfahrungen gesammelt werden, um verlässlich Ausschussmengen seitens der Erzeuger zu garantieren und den Abnehmern zu liefern.
Während ehrenamtlich bereits ein großes Engagement zur Nutzung ausrangierter Lebensmittel besteht, gibt es auch bereits ein paar Unternehmen, die sich auf die Vermarktung und Verarbeitung von B-Ware spezialisiert haben. Ziel muss sein, dass dies keine Ausnahme bleibt. Die Verwendung und Vermarktung von B-Ware sollte zur Normalität werden.